Werk I: Görlitz hat das geschafft

Werk I: Görlitz hat das geschafftGörlitz, 10. September 2020. Manchmal braucht Görlitz einen gewaltigen Schubs, um seinem fast ebenso gewaltigem Beharrungsvermögen zu entrinnen. So einen Schubs gab es am 26. Januar 2012 mit dem "Flashmob der Görlitzer Jugend", als diese – 120 Teilnehmer stark und wie in Görlitz üblich höchst diszipliniert – in den Stadtrat einrückte und dort stumm, aber unmissverständlich klarmachte, worum es geht: Görlitz attraktiver für junge Leute machen.

Im Bild von links: Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu, sein Vorgänger Siegfried Deinege und die neuen Schlüsselkinder Theresa Zymek und Christian Thomas vom Second Attempt e.V.
Foto: Stadtverwaltung Görlitz
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Nun ist der Verein am Zuge

Nun ist der Verein am Zuge
Eröffnung unter Coronabedingungen: Um Gedränge zu vermeiden, gab es nur geladene Gäste, die diszipliniert Abstand hielten und im Gebäude die Maske aufsetzten
Foto: © BeierMedia.de

Reichlich achteinhalb Jahre später, nach endlosen Diskussionsrunden, Gesprächen auf Augenhöhe, wie Ex-Oberbürgermeister Siegfried Deinege betonte, und einem Engagement-Marathon zeitig die Aktion einen Riesenerfolg: Das Werk I, benannt nach dem ehemaligen Görlitzer Waggonbaustandort, wurde im fast fertigen Zustand an den Second Attempt e.V. als Betreiber übergeben.

Nach über zwei Jahren Bauzeit war die Übergabe Anlass für die Bau- und Planungsfirmen, die Politik etwa in Gestalt der Landtagsabgeordneten Franziska Schubert und Mirko Schultze sowie von Stadträten, für regionale Vereine und Kulturleute sowie die Stadtverwaltung Görlitz, vor Ort zu erscheinen, um das "Zentrum für Jugend und Soziokultur Werk I" – das sich an alle Generationen richten soll – zu eröffnen. Dass es tatsächlich um alle Generationen gehen muss, dämmerte wohl auch Theresa Zymek vom Second Attempt, die neben Oberbürgermeister Octavian Ursu, seinem Vorgänger im Amt Siegfried Deinege und dem Second Attempt-Vorstandsvorsitzenden Christian Thomas zu den Eröffnungrednern gehörte: Als damalige Flashmob-Teilnehmerin war sie entgegen ihrer ursprünglichen Absichten in Görlitz geblieben und erlebte so den langen Prozess – während dem sie vom Mädchen zur jungen Frau wurde – bis zur heutigen Eröffnung. So entwickeln sich soziokulturelle Zentren im besten Falle: Neben einer immer wieder neuen Generationsablösung bleiben die in die Jahre kommenden Macher ebenfalls am Ball.

Für Oberbürgermeister Octavian Ursu war es ganz offensichtlich ein schöner Tag und der dankte neben allen Beteiligten vor allem seinem Vorgänger Siegfried Deinege, der mit seiner Hemdsärmlichkeit der Görlitzer Jugend das Verhältnis von Anspruch und Verantwortung nahebrachte und so den Weg zum jetzigen soziokulturellen Zentrum öffnete. Als ehemaligem Direktor des Waggonbau-Werks ist es ihm mit Sicherheit eine Herzensangelegenheit, dass in den stehengebliebenen Gemäuern neues Leben einzieht.

Ganz ohne Bauchschmerzen dürfte das Projekt für den Second Attempt e.V., der in der benachbarten Rabryka zu Hause ist, allerdings nicht starten, muss er doch einen ziemlichen Teil des Innenausbaus auf eigene Rechnung bewältigen. Angesicht der durch die Coronakrise gestiegenen Preise wird dafür wohl auch auch der Griff in die Portokasse nicht ausreichen. Andererseits wäre es ein guter Weg, wenn der Verein möglichst viel improvisiert. Das spart nicht nur Investitionskosten, sondern beugt dem verbreiteten Perfektionismus vor. Improvisierte Einrichtungen sind nicht nur preiswerter, sondern werden durchaus besser angenommen, lassen sich zudem leichter verändern und es ist nicht so ärgerlich, wenn der Alltag eines soziokulturellen Zentrums seine Spuren hinterlässt.

Sobald die Hütte betriebsfähig ist, verfügt Görlitz über eine weitere Veranstaltungs- und Tagungsmöglichkeit, hier sogar mit großem Parkplatz vor der Haustür. In den neu hergerichteten Räumlichkeiten der ehemaligen Industriebrache sollen möglichst bald kulturelle, pädagogische sowie gesellschaftliche Angebote und Veranstaltungsformate, die für alle Altersgruppen geeignet sind, einen Platz finden. Insofern ist der Name "Zentrum für Jugend und Soziokultur" ein wenig irreführend, wenn man davon absieht, dass die heutige Generation 60plus – Hallo Herr Deinege! – jugendlicher drauf ist als manch stromlinienförmig angepasster Mittzwanziger.

Betreiber des Zentrums für Jugend und Soziokultur "Werk I" wird also der in der Fördermittelakquisition höchst erfahrene Second Attempt e.V. sein. Schon in der Planungsphase war er inhaltlich und konzeptionell involviert. Auf der heutigen Veranstaltung nahm der Vorstandsvorsitzende Christian Thomas den symbolischen Schlüssel des Gebäudes, in das 4,4 Millionen Euro investiert wurden, entgegen.

Ohne Reden geht es nicht

Doch zuvor gab es die unvermeidlichen Redebeiträge. Der Görlitzer Oberbürgermeister Ursu dankte dem Freistaat Sachsen, insbesondere der Sächsischen Aufbaubank, durch deren Fördermittel die Sanierung der Industriebrache in ein zeitgemäßes und barrierefreies Zentrum für Jugend und Soziokultur in diesem Umfang überhaupt erst ermöglicht wurde. Des Weiteren dankt er seinem Vorgänger Siegfried Deinege, der das Projekt als sein Vorgänger im Oberbürgermeisteramt auf den Weg gebracht hatte. Außerdem dankte der Oberbürgermeister den Bau- und Planungsfirmen sowie allen weiteren beteiligten Firmen, unter ihnen, um ein Beispiel zu nennen, die Köhler & Sohn GmbH, und den beteiligten Mitarbeitern des Landratsamtes sowie der Stadtverwaltung Görlitz.

Ex-Oberbürgermeister Deinege war es wichtig, dass das soziokulturelle Zentrum in gewisser Weise die Tradition des 1849 gegründeten Waggonbaus fortsetzt: "Diesen Betrieb haben Generationen von Görlitzern durchlaufen!" In seinen Augen passt das neue soziokulturelle Zentrum "wie die Faust aufs Auge in diese Stadt" und er werde in zehn Jahren nachschauen, was hier los ist.

Genug der Worte: Die Besucher der Eröffnungsfeier waren zu einem Besichtigungsrundgang durch das Gebäude eingeladen – und der war wirklich beeindruckend. Das teils entlastete Stahltragwerk der einstigen Industriehalle wurde mehr oder weniger offen in funktionale Räumlichkeiten integriert, die Kranbahn bleibt sichtbar erhalten und erinnert an das Industriezeitalter. Junge Leute werden hier in einer Vielzahl von Räumen Zugang zu unterschiedlichsten Technologien erhalten werden, ob nun elektronische Medien, Handwerk oder 3-D-Druck und CNC-Fräsen.

Das Projekt

Bei Beginn der Arbeiten war das Gebäude teilweise einsturzgefährdet und insgesamt in einem maroden Zustand. Ab April 2018 erfolgte ein Teilabbruch, wobei das gesamte Dach und die Einbauten entfernt wurden. Dazu war es notwendig, die Außenwände zu sichern und abzustützen.

Dabei wurde ein Träger des alten Dachtragwerkes beiseite gelegt und später ohne tragende Funktion wieder eingebaut. Heute ist er am Westgiebel zu sehen. Die Mauerkronen der Außenwände wurden instandgesetzt und im Anschluss daran konnte das neue Dachtragwerk errichtet werden. Die Stahlbinder wurden dabei nach historischem Vorbild hergestellt. Im Schutze des neuen Daches erfolgte dann der Ausbau der Fußbodenkonstruktion und des darunter befindlichen Bodens, da der Fußboden und der anstehende Boden sehr inhomogen waren und für die spätere Nutzung Fundamente für die neuen tragenden Wände und Stützen sowie für die neue Bodenplatte erforderlich waren. Parallel wurden die tragenden Bestandsstützen gestrahlt und mit einem Korrosions- und Brandschutzanstrich versehen.

Nachdem die Bodenplatte hergestellt war, erfolgte der Einbau der neuen Innenwände und Decken, um die einzelnen Räume von der Halle abzutrennen. Anschließend erfolgten der Innenausbau und die Installation der haustechnischen Anlagen. Stellenweise entsteht für den Besucher der Eindruck, sich noch immer in einer Indutriehalle zu befinden, in die eine kleine Stadt eingebaut wurde.

Von außen gesehen wurde die Backsteinfassade erhalten, ebenso die Industriefenster und die alten Anbauten wie etwa der Metallbalkon. Aufputz-Installationen und der Betonboden unterstreichen den alten Industrie- und neuen Arbeitscharakter in Studios, Werkstätten und Workshopräumen.

Bei der Sanierung wurde großer Wert auf die Barrierefreiheit gelegt. So wurden unter anderem eine Eingangsrampe für Rollstuhlfahrer errichtet und eine Hörschleife in den Saal eingebaut, mit der Redebeiträge und Musik direkt auf Hörgeräte übertragen werden können.

Mehr:
Der Görlitzer Anzeiger berichtete am 22. September 2018 von zwei Tage zuvor stattgefundenen Richtfest für das Werk I.

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  • Quelle: red | Foto vier personen: Stadtverwaltung Görlitz, Foto Übersicht: © BeierMedia.de
  • Erstellt am 10.09.2020 - 22:04Uhr | Zuletzt geändert am 25.02.2022 - 16:13Uhr
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