Unerhört! Expressionismus im Kulturhistorischen Museum Görlitz

Unerhört! Expressionismus im Kulturhistorischen Museum GörlitzGörlitz, 10. August 2018. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ließen Künstler auch in Görlitz bisherige Konventionen hinter sich und begannen, expressionistisch zu arbeiten. Impulse dafür kamen von der Dresdener Künstlervereinigung "Die Brücke" sowie aus Breslau, wo der Maler Otto Mueller wirkte. Schnell wurde der Expressionismus zum Stadtgespräch und Werke von Görlitzer Künstlern erlangten überregionale Bekanntheit. Erstmals widmet das Kulturhistorische Museum dieser bedeutenden Epoche der Görlitzer Kunst- und Kulturgeschichte mit "Unerhört! Expressionismus in Görlitz" nun eine umfangreiche Sonderausstellung. Gezeigt werden mehr als 200 Werke, darunter Aquarelle, Grafiken, Kupferstiche, Holzschnitte, Fayencen und Bücher, ergänzt durch Fotografien aus den Zwanzigerjahren, die Görlitzer Bürger dem Museum, das für diese Unterstützung dankt, zur Verfügung gestellt haben. Die Chronologie der Ausstellung setzt Ende des 19. Jahrhunderts ein, eine Zeit, in der sich Görlitz städtebaulich und wirtschaftlich rasant entwickelte und parallel eine lebendige Kultur- und Kunstszene entstand. Der Rundgang führt bis in die Gegenwart, in der einige Künstler die Idee des Expressionismus in ihren Arbeiten weiterleben lassen. Die Sonderausstellung wird begleitet von einem vielfältigen Programm, zu dem Kunstpausen, Führungen, kulturgeschichtliche Spaziergänge und Vorträge gehören. Erscheinen soll auch eine Publikation zum Expressionismus in Görlitz.

In der Görlitzer Nikolaikirche
Foto: © Görlitzer Anzeiger
Anzeige

Görlitz als bedeutende Stadt des Expressionismus

Görlitz als bedeutende Stadt des Expressionismus
In der Nikolaikirche zu Görlitz

Thema: Ausstellungen in Görlitz und Umgebung

Ausstellungen in Görlitz und Umgebung

Görlitz verfügt nicht nur über fast 4.000 Baudenkmale, sondern ist eine Stadt der Museen und Ausstellungen. Hier befinden sich beispielsweise das Kulturhistorische Museum, das Schlesische Museum zu Görlitz, das Museum der Fotografie und das Senckenberg Museum für Naturkunde, im polnischen Teil der Europastadt das Lausitz-Museum. Darüber hinaus gibt es häufig Sonderausstellungen an anderen Orten, auch im Umland der Stadt sowie in der Dreiländerregion von Sachsen, Tschechien und Polen.

Unerhört war der Expressionismus, als er sich vor rund 100 Jahren, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, in Görlitz etablierte. Revolution, neue Republik und Wirtschaftskrise zwangen die überwiegend konservative Bürgerschaft der Neißestadt, sich politisch und kulturell neu zu orientieren. Zumindest für einen Teil vermochte der Expressionismus, die entstandenen Lücken zu füllen.

Zur gleichen Zeit begannen sich die Görlitzer Künstler besser zu organisieren und regelmäßig gemeinsame Ausstellungen zu veranstalten. Der Expressionismus, der bisherige Konventionen hinter sich ließ, neue Freiheiten auslotete, sich aber auch einen skeptischen Blick auf die Gegenwart bewahrte, wurde für sie zum Ausdruck einer geistigen, politischen und kulturellen Erneuerung, die ganz Deutschland und so auch Görlitz erfasst hatte. Begegnete das hiesige Publikum den neuartigen Werken anfangs noch mit Skepsis, so änderte sich dies binnen weniger Jahre: Görlitz wurde zu einem überregional bedeutenden Ort des Expressionismus. Der Schriftsteller und Maler Joseph Anton Schneiderfranken schrieb 1921, dass "Görlitz in der Reihe der deutschen Städte, in denen neuere künstlerische Bestrebungen am Werke sind, durchaus nicht die letzte Stelle einzunehmen gesonnen ist".

Expressionismus in Görlitz ist ein vielfältiges künstlerisches und kulturelles Phänomen. Verschiedene Faktoren begünstigten den Erfolg der neuen Kunstrichtung in Görlitz und machten die Neißestadt in den Jahren der Weimarer Republik zu einem überregional bedeutenden Ort der Künste. Die entscheidenden Anregungen dafür kamen von außen: In den Jahren des Ersten Weltkriegs waren Künstler wie Fritz Neumann-Hegenberg und Joseph Anton Schneiderfranken in die Stadt gezogen, die gleich nach Kriegsende die lokale Kunstszene völlig neu organisierten und auf geschickte Weise das Interesse des Publikums weckten. Wichtige Impulse kamen auch aus Breslau und Dresden, wo junge Görlitzer an den dortigen Kunstakademien bei namhaften Vertretern des Expressionismus studierten. Und auch das kulturelle Leben der Reichshauptstadt Berlin strahlte bis nach Görlitz. Der Expressionismus hielt binnen kurzer Zeit in Görlitz Einzug und blieb lange. Noch bis in die Gegenwart sind seine Nachwirkungen spürbar. Obwohl in den Jahren des Nationalsozialismus viele Künstler die Neißestadt verließen oder die innere Emigration wählten, konnte der Expressionismus nach 1945 noch einmal neu aufleben.

Bevor der Expressionismus kam, wurden die Görlitzer bildenden Künstler kaum über die Stadtgrenzen hinaus wahrgenommen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatte Görlitz wirtschaftlich rasant an Fahrt gewonnen und sich mit neuangelegten Stadtvierteln weit in die Umgebung ausgedehnt. Zwischen 1880 und 1910 nahm die Einwohnerzahl von 60.000 auf 85.000 zu. Zu dieser Zeit wuchsen der spätere expressionistische Maler Otto Mueller sowie der spätere Verleger und wichtigste Kunsthändler des deutschen Expressionismus, Paul Cassirer, in Görlitz auf und sammelten erste Eindrücke von der Welt der Kunst. Allerdings hatten die Künste mit der dynamischen Entwicklung der Neißestadt nicht Schritt gehalten. Zwar besuchten die Bürger das Theater, Konzerte und Kunstausstellungen und es gab bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen Kunstverein. Doch blieben die Wirkungskreise dieser Institutionen weitgehend auf Görlitz beschränkt. Lange hielt sich eine spätromantische Malerei und selbst der Impressionismus setzte sich bei der hiesigen Künstlerschaft erst in seiner späten Phase durch. Um 1910 waren Künstlerinnen und Künstler wie Erna von Dobschütz, Edmund Bautz, Wilhelm Kahl und Albin Kühn in Görlitz tonangebend. Für die kulturell in sich ruhende Stadt bedeutete der Erste Weltkrieg, auch wenn die Kriegsschauplätze weit entfernt lagen, einen tiefen Einschnitt – denn er sollte vieles verändern.

Die Ursprünge des Expressionismus liegen in den deutschen Großstädten Berlin, Dresden und München. Die neue Kunst, die sich von akademischen Regeln völlig löste, fand ihre wichtigsten Anregungen in der zeitgenössischen Kunst Frankreichs und den Künsten indigener Völker Afrikas, Mittelamerikas und Südostasiens. Der Kunstkritiker Herwarth Walden gab der neuen Strömung 1911 erstmals den Namen „Expressionismus“. Wichtige Protagonisten waren Max Pechstein, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff, die 1905 in Dresden die Künstlergruppe "Die Brücke" gründeten. Ihren Werken begegnete das Görlitzer Publikum erstmals in einer Ausstellung, die der Kunstverein für die Lausitz von Juli bis September 1907 veranstaltete. Der Expressionismus bezeichnete aber nicht nur eine Stilrichtung in den Künsten, sondern das Lebensgefühl der jungen Generation, die gegen die gesellschaftlichen Normen im Kaiserreich aufbegehrte. Viele junge Männer dieser Generation mussten als Soldaten im Ersten Weltkrieg kämpfen und verloren dabei ihre Leben. Nach dem Ende des Krieges wurde der Expressionismus zum Motor für eine gesellschaftliche Neuorientierung in der jungen und fragilen Demokratie der Weimarer Republik.

  • Fritz Neumann-Hegenberg war ein wichtiger Wegbereiter des Expressionismus in Görlitz. Der Maler Johannes Wüsten schrieb 1925 über ihn und seine Wirkung: die bildende Kunst in Görlitz „wurde lebendig, als Fritz Neumann-Hegenberg kam. Und wenn sich heute weite Kreise der einheimischen Bevölkerung mit Kunst beschäftigen, so ist das in erster Linie diesem Maler und Redner zu verdanken, dessen Leben einfach aufging im Kunstdienst am Nächsten.“ Geboren und aufgewachsen im niederschlesischen Strehlen (Strzelin), hatte Neumann-Hegenberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Breslau, Weimar und Berlin bei Lovis Corinth, Emil Orlik und Henry van de Velde studiert. 1914 erhielt er in Görlitz eine Anstellung als Lehrer und verfolgte von hier aus intensiv die neuen künstlerischen Entwicklungen in den deutschen Großstädten. 1918 gehörte er zu den ersten Mitgliedern des von den Architekten Bruno Taut und Walter Gropius in Berlin gegründeten „Arbeitsrates für Kunst“, der eine Erneuerung der Künste in Deutschland anstrebte. 1919 fand die erste umfangreiche Ausstellung der Werke Neumann-Hegenbergs in der Görlitzer Stadthalle statt. Sie wurde zum Schlüsselereignis für die Etablierung des Expressionismus in der Neißestadt. Auch durch Vorträge und Zeitungsartikel versuchte Neumann-Hegenberg, das Publikum für die neue Kunst zu begeistern. Sein früher Tod 1924 hinterließ eine spürbare Lücke in der Görlitzer Kunst- und Kulturszene. Noch im gleichen Jahr veranstaltete der Kunstverein für die Lausitz eine Gedenkausstellung, der zehn Jahre später eine weitere folgte. Heute gelten viele seiner Werke als verschollen.

  • Joseph Anton Schneiderfranken und der Jakob-Böhme-Bund sind zwei weitere Wurzeln des Expressionismus in Görlitz. Der Maler und Schriftsteller Joseph Anton Schneiderfranken war während des Ersten Weltkriegs nach Görlitz versetzt worden. Er blieb nach Kriegsende in der Neißestadt und wurde als Schriftsteller, Maler und Organisator des Kunstbetriebs tätig. Von 1919 bis 1921 war er Vorsitzender des Kunstvereins für die Lausitz. Durch Vorträge und Zeitungsartikel propagierte er die Kunst des Expressionismus und förderte junge Künstler wie Willy Schmidt. Innerhalb des Kunstvereins gründete Schneiderfranken zusammen mit Fritz Neumann-Hegenberg und anderen expressionistisch arbeitenden Malern den Jakob-Böhme-Bund. Da viele seiner Mitglieder der Naturmystik nahestanden, wählten sie den Namen des berühmten Görlitzer Theosophen, dessen Wirken in jenen Jahren wiederentdeckt wurde. Bereits seit 1913 verfasste Schneiderfranken religiös-spirituelle Bücher zur geistig-individuellen Erweckung, die er unter seinem „ewigen Namen“ Bô Yin Râ veröffentlichte. Die Inflation brachte 1923 die Arbeit des Kunstvereins zum Erliegen. Schneiderfranken verließ daraufhin Görlitz und siedelte sich in der Schweiz an. Der Jakob-Böhme-Bund löste sich auf.

  • Willy Schmidt zwischen 1919 und 1925 war zweifellos der produktivste expressionistische Görlitzer Künstler. In der Neißestadt geboren und aufgewachsen, absolvierte Schmidt hier zunächst eine Ausbildung als Lithograf. Danach studierte er von 1919 bis 1921 bei Otto Mueller an der Breslauer Kunstakademie. „Es war wohl die eindrucksvollste Zeit meines Lebens, die ich unter Otto Muellers künstlerischer Leitung erlebte“, blickte er noch im Alter auf diese Jahre zurück. Beide verbanden ähnliche Erfahrungen: Kindheit, Jugend und Lithografen-Ausbildung in Görlitz. Von Breslau wechselte Schmidt 1921 mit finanzieller Unterstützung von Görlitzer Mäzenen an die Münchener Kunstakademie. Aufgrund seiner schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse musste er jedoch 1923 nach Görlitz zurückkehren und war hier fortan als freischaffender Maler und Grafiker tätig. In den Gemälden und Druckgrafiken der Jahre 1919 bis 1925 wird Schmidts künstlerische Prägung durch Otto Mueller besonders deutlich. Bereits seit 1920 erhielt er durch den Jakob-Böhme-Bund und die persönliche Förderung von Joseph Anton Schneiderfranken und Fritz Neumann-Hegenberg die Möglichkeit, seine Arbeiten in Görlitz öffentlich auszustellen.

    Zwischen 1925 und 1933 markiert Schmidt die Zeit des fortgeschrittenen Expressionismus in der Neißestadt. Nachdem sich der Jakob-Böhme-Bund aufgelöst hatte, gehörte Schmidt ab 1925 der Görlitzer Künstlerschaft an. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erweiterte er seine künstlerischen Möglichkeiten. Zwar blieb die Malerei Otto Muellers für ihn weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt, jedoch orientierte er sich auch an Werken anderer namhafter Expressionisten wie Ernst Ludwig Kirchner oder Emil Nolde und führte diese Anregungen zu einer eigenen Ausdrucksweise zusammen. Die Vielfalt seiner technischen Möglichkeiten spiegelt sich in den diversen Bearbeitungen des Bildthemas "Der Kuss" aus den frühen 1930er Jahren wider, das er in fünf verschiedenen Medien realisierte. Da seine Verkaufsmöglichkeiten in Görlitz jedoch begrenzt blieben und er auch mit Gelegenheitsaufträgen als Werbegrafiker und Bühnenbildner nicht genügend Geld verdiente, war Schmidt in den späten 1920er Jahren auf Unterstützung aus dem Hilfsfonds für notleidende Künstler angewiesen, den der Görlitzer Magistrat eingerichtet hatte. Schmidt befand sich auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und seine Arbeitsmöglichkeiten drastisch einschränkten.

  • Johannes Wüsten und sein Kreis bildeten seit Mitte der 1920er Jahre einen neuen Schwerpunkt in der Görlitzer Kunstszene. Geboren und aufgewachsen in Görlitz, wollte Johannes Wüsten zunächst an der Dresdener Kunstakademie studieren. Für die Aufnahmeprüfung nahm er Zeichenunterricht bei der Görlitzer Malerin Erna von Dobschütz und hielt sich kurzzeitig beim Maler Otto Modersohn in Worpswede auf. Doch statt ein Kunststudium, für das er abgelehnt wurde, zu beginnen, musste er als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen. Nach Kriegsende ging Wüsten nach Hamburg und wurde dort auch ohne Studium zum Künstler. Er gehörte zu den Mitbegründern der Hamburgischen Sezession, einer Künstlergruppe, die den Expressionismus in der Hansestadt etablierte. 1922 kehrte Wüsten nach Görlitz zurück und gründete im folgenden Jahr mit seiner späteren Frau Dorothea Koeppen und seinem jüngeren Bruder Theodor Wüsten eine Manufaktur für künstlerische Keramik. Gemeinsam stellten sie expressionistische Plastiken und Zierkacheln her. Doch der Zeitpunkt für die Firmengründung – der Höhepunkt der Wirtschaftskrise – war schlecht gewählt: Kurz vor dem Bankrott musste die Manufaktur 1925 wieder schließen. Johannes Wüsten war gleichzeitig als wichtigster Organisator der Görlitzer Künstlerschaft tätig und konnte dafür seine Erfahrungen aus der Zeit der Hamburgischen Sezession nutzen.

  • Dora Kolisch und Walter Deckwarth gehörten zu den jungen Künstlern, die von den Ausstellungsmöglichkeiten des Kunstvereins für die Lausitz und des Jakob-Böhme-Bundes profitierten und sich so nach 1918 in Görlitz und darüber hinaus einen Namen machen konnten. Seit Beginn der 1920er Jahre waren Arbeiten von beiden regelmäßig in Görlitzer Ausstellungen vertreten. Die in der Neißestadt aufgewachsene Dora Kolisch hatte von 1905 bis 1908 zunächst an der Kunsthochschule Weimar und von 1910 bis 1912 an der Kunstakademie München studiert. Danach kehrte sie nach Görlitz zurück und war hier zeitlebens freischaffend tätig.
    Der etwas jüngere Walter Deckwarth stammte aus Zittau, hatte dort eine Ausbildung zum Glasmaler absolviert und sich anschließend autodidaktisch weitergebildet. 1919 gründete er eine erfolgreiche Werkstatt für Glasmalerei in Görlitz und schuf nebenher Gemälde und Zeichnungen. Zusammen mit anderen Mitgliedern der Görlitzer Künstlerschaft wandten sich Walter Deckwarth und Dora Kolisch in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre von den Stilformen des Expressionismus ab und der Bildsprache der Neuen Sachlichkeit zu. Die umfangreichen künstlerischen Nachlässe von beiden befinden sich heute im Kulturhistorischen Museum Görlitz.

  • Arno Henschel begeisterte sich für die Kunst des Expressionismus durch die Ausstellungen des Jakob-Böhme-Bunds. Geboren und aufgewachsen in Görlitz, sammelte er erste künstlerische Erfahrungen um das Jahr 1918 als Zeichenschüler beim Görlitzer Maler Edmund Bautz. Allerdings übernahm er dessen spätimpressionistischen Stil nur für kurze Zeit. Nach dem Erlebnis der Werke Fritz Neumann-Hegenbergs und Willy Schmidts begann Henschel, expressionistische Zeichnungen und Druckgrafiken herzustellen, von denen einige in seinem Nachlass erhalten sind. Sie wurden nicht nur in Görlitz, sondern auch in Dresden, München und Hamburg ausgestellt. Mit diesen Blättern bewarb sich Henschel 1924 an der Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe, wurde angenommen und studierte bis 1926 bei den Malern Alexander Kanoldt und Carlo Mense. Geprägt von deren Bildsprache der Neuen Sachlichkeit, wandte sich Henschel vom Expressionismus wieder ab. Nach seinem Studium kehrte er dauerhaft in seine Heimatstadt zurück und gehörte zu den prägenden Mitgliedern der Görlitzer Künstlerschaft. Sein Nachlass befindet sich im Kulturhistorischen Museum Görlitz.

  • Walter Rhaue gehörte als Maler und vor allem als Kunsttöpfer zu den jungen Künstlern, die durch den Görlitzer Jakob-Böhme-Bund gefördert wurden. Aus einem Dorf in der Nähe der niederschlesischen Stadt Brieg stammend, studierte er von 1905 bis 1911 an der Breslauer Kunstakademie bei Hans Poelzig und Hans Roßmann. Danach ließ er sich in Görlitz nieder und war zunächst als Wandmaler und Restaurator tätig. Nach dem Ersten Weltkrieg gründete Rhaue eine Werkstatt für künstlerische Keramik, die schnell überregional bekannt wurde. In den 1920er Jahren verzierte Rhaue seine Gefäße mit expressiven, figürlichen und abstrakten Dekoren. Zu seinen Mitarbeitern gehörten Dorothea Koeppen und Theodor Wüsten, die schließlich gemeinsam mit Johannes Wüsten eine eigene Werkstatt für künstlerische Keramik gründeten. Die Werkstatt von Walter Rhaue bestand auch nach dem Tod des Künstlers 1959 fort. Auf die Dekore der 1920er Jahre wurde bis zuletzt immer wieder zurückgegriffen, was der Rhaue-Keramik einen hohen Wiedererkennungswert verleiht.

Die Görlitzer Künstlerschaft

Die Görlitzer Künstlerschaft wurde gegründet, nachdem sich der Jakob-Böhme-Bund aufgelöst hatte. "Wird Görlitz eine Kunststadt?", fragte 1925 der Maler und Grafiker Johannes Wüsten anlässlich der ersten Ausstellung der Görlitzer Künstlerschaft. Zu diesem Zeitpunkt war Görlitz bereits eine Kunststadt mit regelmäßigem Ausstellungsbetrieb und einem bürgerlichen Sammlerpublikum. Der Expressionismus hatte sich fest etabliert und fand großes Interesse. Verismus und Neue Sachlichkeit begannen sich als neue Ausdrucksformen zu etablieren. Johannes Wüsten wurde zum wichtigsten Organisator des Kunstlebens in der Neißestadt, kuratierte Ausstellungen, schrieb in der Tagespresse und betrieb zusammen mit dem Maler Otto Wilhelm Merseburg eine Mal- und Zeichenschule.

Das Bündnis der Görlitzer Künstlerschaft war offener organisiert als der Jakob-Böhme-Bund. Hatte sich jener vor allem dem Expressionismus gewidmet, so waren in der Görlitzer Künstlerschaft Künstlerinnen und Künstler organisiert, die ganz verschiedene Stilrichtungen und Ausdrucksformen wählten: vom fortlebenden späten Impressionismus über den Expressionismus bis hin zur gerade entstehenden Neuen Sachlichkeit. Sie versammelte sowohl junge Talente, die gerade erst im Kunstbetrieb Fuß zu fassen suchten, als auch bereits etablierte Künstlerinnen und Künstler. Das Bündnis trug auch dazu bei, dass Görlitz als Kunststadt überregional weiter an Bekanntheit gewann.

Expressionismus in der Kirche: Die Görlitzer Nikolaikirche

Die Umgestaltung der Nikolaikirche zum Raumkunstwerk des Expressionismus erfolgte in wirtschaftlich schwieriger Zeit. 1925 hatte sich die evangelische Gemeinde von Görlitz dazu entschlossen, die Nikolaikirche zur Gedächtnisstätte für die im Krieg als Soldaten gefallenen Gemeindemitglieder umzugestalten. Mit dem Umbau wurde der Architekt Martin Elsässer (1884–1957), Professor an der Kölner Kunstgewerbeschule, zusammen mit einigen seiner Kollegen betraut. Ihm gelang ein kühner Wurf, indem er die vorhandene barocke Gestaltung des Kircheninneren durch ein neues, an gotische Architektur erinnerndes Gewölbe ersetzte, das auf kristallinen Pfeilern ruht. Diese Pfeiler, die ebenfalls neuerrichtete Westempore sowie die gesamten Innenwände der Kirche ließ Elsässer mit einer Ausmalung gestalten, in die die Namen der Gefallenen eingefügt sind. Ein Krieger und eine Trauernde, zwei Metallplastiken des Kölners Hans Wissel, schmücken die Empore. Im Zusammenspiel von Architektur, Ausmalung und figürlicher Gestaltung entstand ein einzigartiger expressionistischer Innenraum. Die Umgestaltung der Nikolaikirche fiel in eine Zeit, in der der Expressionismus als eine an die Gotik anknüpfende neue deutsche Kunst verklärt wurde.

Literarischer Expressionismus in Görlitz

Ludwig Kunz und "Die Lebenden" erreichten eine weit über Görlitz hinausgehende Wirkung als Förderer des literarischen Expressionismus. Im Görlitzer Literaturleben der Zwanzigerjahre kam dem lyrikbegeisterten Unternehmersohn Ludwig Kunz eine besondere Rolle zu. Denn weder die mitgliederstarke Literarische Gesellschaft e.V. noch die 1922 gegründete Theatergemeinschaft bedienten den literarischen Expressionismus. Diese Autoren zu Wort kommen zu lassen, machte sich Kunz zur Aufgabe. Angeregt von den Lyrikern Max Herrmann-Neiße und Oskar Loerke, organisierte er Vortragsabende und gab von 1923 bis 1931 die Flugblätter "Die Lebenden" in loser Folge heraus. In ihnen wurden kurze Essays und vor allem Lyrik von etablierten, aber auch von jungen, noch wenigen bekannten Autoren veröffentlicht. Auf dem Titel erschienen stets Grafiken von jungen Künstlerinnen und Künstlern, die der einflussreiche Kritiker Willi Wolfradt kommentierte. Als 1931 die letzte Ausgabe erschien, warf der Nationalsozialismus bereits seine Schatten voraus. Ludwig Kunz verließ Görlitz 1938, emigrierte in die Niederlande und kehrte bis zu seinem Tod 1976 nie wieder in seine Heimat zurück. Jahrzehntelang war er in Görlitz fast vergessen, bis 1994 wesentliche Teile seines Nachlasses in die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften gelangten und vom Görlitzer Germanisten Wolfgang Wessig aufbereitet wurden.

Für die Nazis "entartete Kunst"

Die Zeit des Nationalsozialismus bedeutete einen dramatischen Einschnitt in die Biografien aller expressionistischen Görlitzer Künstlerinnen und Künstler: Von den neuen Machthabern wurde ihre Kunst als "entartet" diffamiert, unterdrückt und vernichtet. Johannes Wüsten ging bereits 1934 ins Exil, zunächst nach Prag, später nach Paris. Dort wurde er 1941 von der Gestapo verhaftet und wegen Hochverrats inhaftiert. 1943 verstarb er im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Ludwig Kunz verließ die Neißestadt 1938 und ging nach Amsterdam ins Exil. Nachdem deutsche Truppen die neutralen Niederlande besetzt hatten, war Kunz rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt und entging nur mit Hilfe von Freunden und Bekannten der Deportation. Willy Schmidt blieb in Görlitz, unterlag jedoch einem Arbeits- und Ausstellungsverbot. Er suchte die innere Emigration und schuf im Verborgenen Zeichnungen und Gemälde, in denen er sich intensiv mit der jüdischen Überlieferung beschäftigte. Auch Dora Kolisch, von der Werke als "entartet" galten, wählte die innere Emigration. Arno Henschel und Walter Rhaue versuchten, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren, um öffentliche Aufträge zu erhalten. Wenige Tage vor Kriegsende kam Arno Henschel als Pilot der Luftwaffe ums Leben. Am Ende des Zweiten Weltkriegs schien die Kunstszene, die in Görlitz während der 1920er Jahre gewachsen war, verloren zu sein.

Expressionismus in Görlitz nach 1945

Wiederaufleben konnte die Kunst des Expressionismus in Görlitz noch einmal nach 1945. Mit viel Enthusiasmus und dem Glauben, in eine neue, freie Zeit einzutreten, schufen Willy Schmidt und Dora Kolisch wieder neue Werke im Stil des Expressionismus der 1920er Jahre. Mit Vorträgen versuchte Schmidt zudem, beim Görlitzer Publikum wieder ein Bewusstsein für die von den Nationalsozialisten als "entartet" diffamierte Stilrichtung herzustellen. Eine lebhafte Kunstszene wie in den 1920er Jahren, die weit über die Stadtgrenzen hinaus wirkte, entstand in der Neißestadt allerdings nicht mehr. Die rigide Kulturpolitik des SED-Regimes der frühen 1950er Jahre setzte diesem Aufbruch enge Grenzen und diskreditierte schließlich die Kunst des Expressionismus als "kosmopolitisch-dekadent". Die Kulturfunktionäre sahen allein den sozialistischen Realismus nach sowjetischem Vorbild als angemessene Kunst für den neuen sozialistischen Staat. Dessen ungeachtet, gab Willy Schmidt seinen expressionistischen Stil in Mal- und Zeichenzirkel an junge Künstlerinnen und Künstler wie den Autodidakten Wilfried Mauermann weiter. Einige von ihnen wie die Malerin Waltraud Geisler tragen die Idee des Expressionismus bis in die jüngste Zeit und zeigen, dass ihr Potential noch lange nicht erschöpft ist.

Expressionistisches Erbe im Kulturhistorischen Museum Görlitz

Der Expressionismus ist im Museum angekommen und wird so für die Nachwelt überliefert: Das Görlitzer Kaiser-Friedrich-Museum (später Städtische Kunstsammlungen, heute Kulturhistorisches Museum) begann schon früh, die Werke der hiesigen Expressionisten zu sammeln, was zur wachsenden Anerkennung der neuen Kunst beim Görlitzer Publikum beitrug. Erstmals erwarb der Museumsdirektor Ludwig Feyerabend expressionistische Gemälde und Zeichnungen aus der Ausstellung, die 1924 zum Gedenken an den verstorbenen Fritz Neumann-Hegenberg stattfand. Die nachfolgenden Museumsdirektoren Ernst Polaczek und Sigfried Asche bauten die Sammlung weiter aus, indem sie Arbeiten von Willy Schmidt, Walter Rhaue, Dora Kolisch und anderen erwarben.

1937 wurden von der nationalsozialistischen Reichskulturkammer im Zuge der Aktion "Entartete Kunst" auch im Görlitzer Museum expressionistische Kunstwerke beschlagnahmt und zerstört. Weitere Werke gingen am Ende des Zweiten Weltkriegs verloren, als sie zum Schutz vor Luftangriffen auf Schlösser in der Umgebung ausgelagert worden waren. Diese Lücken versuchte der Museumsdirektor Ernst-Heinz Lemper seit den frühen 1950er Jahren durch Ankäufe auszugleichen. In den 1960er Jahren holte er die umfangreichen Nachlässe von Dora Kolisch, Walter Deckwarth und Arno Henschel in den Museumsbestand. Weitere bedeutende Neuerwerbungen, vor allem von Werken Willy Schmidts und Fritz Neumann-Hegenbergs, kamen in jüngster Zeit hinzu.

Prädikat: Unbedingt hingehen!
Noch bis Sonntag, 4. November 2018,
Dienstag bis Donnerstag von 10 bis 17 Uhr,
Freitag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr,
Kulturhistorisches Museum, Kaisertrutz, Platz des 17. Juni 1, 02826 Görlitz:
Unerhört! Expressionismus in Görlitz
Sonderausstellung

Kommentare Lesermeinungen (2)
Lesermeinungen geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich das Recht zu sinnwahrender Kürzung vor.

Filmische Rekonstruktion der Beerdigung von Fritz Neumann-Hegenberg

Von Klaus Weingarten am 03.04.2024 - 10:24Uhr
Die Beerdigung des Künstlers Fritz Neumann-Hegenberg, der am 2. August 1924 an Tuberkolose verstorben war, wollen wir als Zäsur und zugleich Ende des Jakob-Böhme-Bundes aufgrund historischer Dokumente auf den Tag genau hundert Jahre danach, am Sonntag, dem 4. August 2024 um 11.00 Uhr erneut am Originalschauplatz in der Nikolaikirche in Görlitz aufleben lassen und mittels der damals gebräuchlichen Analogfilmtechnik filmisch festhalten. Da es damals eine gute besuchte Veranstaltung war, bitten wir alle Görlitzer, uns bei dieser filmischen Rekonstruktion nach besten Kräften zu unterstützen und Trauerkleidung im Stil der 20er Jahre zu tragen.

Der 125.Geburtstag des Malers Fritz Neumann-Hegenberg - sein Ehrengrab

Von Wolfgang Klaus-Dieter Liebehenschel am 21.02.2019 - 00:42Uhr
Die endlich so hervorragende Aufwertung der Görlitzer Künstler ist eine sehr erfreuliche Tat. Im Berliner Raum wird hierüber leider zu wenig Aufsehens gemacht und zu schmal geworben. Über den 125. Geburtstag des Expressionisten Fritz Neumann-Hegenberg zu Görlitz ist - trotz seiner Verbindung zum Bauhaus mit Walter Gropius u.a.m. – und den Malern der "Die Brücke" hier leider fast nichts zu merken gewesen.

Das niederschlesische Görlitz könnte selbstverständlich mit diesen so wunderbaren Künstlern der Weimarer Zeit - zumal auch Paul Cassirer die starke Verbindung mit Berlin bedeutet - ökonomisch wichtige Touristenströme und Schulklassen anlocken. Der 95. Todestag von Fritz Neumann-Hegenberg am 1. August 2019 könnte, bei richtiger Vorbereitung über die Lehrstühle für Kunst der Hochschulen und Universitäten (Fakultäten Architektur), den 100. Geburtstag in 2024 zu einem großen Ereignis in Görlitz werden lassen. Das wird an der oder dem neuen OB liegen, der hiermit ein erstes Pfund ernten könnte.

Glück auf ! Ihr W. Liebehenschel

Schreiben Sie Ihre Meinung!

Name:
Email:
Betreff:
Kommentar:
 
Informieren Sie mich über andere Lesermeinungen per E-Mail
 
 
 
Weitere Artikel aus dem Ressort Weitere Artikel
  • Quelle: red | Plakat: Görlitzer Sammlungen, Foto Nikolaikirche: © Görlitzer Anzeiger
  • Erstellt am 10.08.2018 - 01:04Uhr | Zuletzt geändert am 29.01.2021 - 06:15Uhr
  • drucken Seite drucken
Anzeige