Geschichte ad acta legen?

Geschichte ad acta legen?Görlitz, 23. Januar 2023. Von Thomas Beier. Spricht man mit Historikern, dann wird schnell klar: Deren Sicht auf die Geschichte ist unter Umständen eine ganz andere, als sie das eigene Erleben oder Erzählungen vermitteln. Das kann zu Irritationen führen.

Abb.: Der Kaisertrutz ist eines der fünf Häuser des Kulturhistorischen Museums als Teil der Görlitzer Sammlungen
Archivbild/Symbolfoto: © Görlitzer Anzeiger
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Wenn die Zeitzeugen aussterben

Wenn die Zeitzeugen aussterben
Wäre Görlitz im Krieg zerstört worden, beinahe hätten es die SED-Sozialisten noch nachträglich geschafft: Wie präsent wäre heute die Görlitzer Stadtgeschichte im Alltag?
Archivbild: © Görlitzer Anzeiger

Insbesondere dann, wenn die Erlebnisgeneration – Zeitzeugen genannt – ausstirbt, wird die Sicht auf die Geschehnisse schwieriger. Es ist ein Unterschied, ob Schüler aus Geschichtsbüchern vom Holocaust erfahren oder ob Überlebende wie die jetzt 101-jährige Margot Friedländer, die heute das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhält, berichten und eindringlich mahnen.

Interessant ist es immer wieder, durch Zeitzeugen die Geschichte aus der Wahrnehmung des Einzelnen zu sehen und die Einordnung durch Historiker zu vergleichen. Das betrifft etwa die Frage, ob man den Ersten Weltkrieg als Stahlgewitter oder das Ende der Menschlichkeit sieht oder weshalb sich die meisten Deutschen sich in den Nationalsozialismus fügten oder ihn unterstützten – um sich in der Sowjetischen Besatzungszone kurz darauf in die sozialistische Diktatur einzufügen und diese aktiv oder passiv zu unterstützen.

Objektive Wahrnehmungen gibt es nicht

Dabei sind Zeitzeugen nicht zwangsläufig objektiv: Wahrnehmungs- und Erinnerungsverzerrungen helfen sogar beim Entwurf von Lebenslügen. Angesichts der Ex-"DDR"-Bürger, die schon immer gegen das SED-Regime waren, darf man fragen, wieso es dann im Oktober 1989 2,3 Millionen Bonbonträger, wie man die SED-Mitglieder wegen ihres bonbonförmigen Parteiabzeichens nannte, gab. Nicht nur wegen der aussterbenden Zeitzeugen ist es also wichtig, dass Akten und belegbare Quellen aufbewahrt werden; sie sind vielmehr auch ein Korrektiv gegenüber Legenden und Rechtfertigungen.

Ohne zuverlässige Aktenquellen, Zeitzeugen und die Aufarbeitung des Geschehenen können sich völlig unzutreffende Legenden so stark etablieren, dass sie sich als vermeintliche Wahrheit in das Denken einschleichen. Noch heute ist in Cottbus die einst von der Stasi verbreitete Meinung an der Tagesordnung, im früheren Zuchthaus hätten in der Zeit des Sozialismus nur Kriminelle eingesessen – Tatsache ist jedoch, dass es sich fast ausnahmslos um politische Häftlinge handelte.

Schaut man auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Görlitz, so zeigt sich, dass nur die Sicht und Einordnung des Historikers ein Bild der Geschehnisse zeichnen kann. Grundlage sind Zeitzeugenberichte, aber eben auch Akten, Fotografien sowie Film- und Tonaufnahmen. Je nach Standpunkt und persönlichem Erleben berichten Zeitzeugen jedoch aus unterschiedlichen Blickwinkeln. So wird etwa der – anders als in Görlitz – weitgehend ungeordnete Aufstand in Berlin als Entfesselung eines brutalen Mobs dargestellt – eine Sichtweise, die von der SED-Propaganda später gar zu gern aufgegriffen wurde.

Man kann nicht alles aufbewahren

Doch die Archivalien werden zunehmend ein Problem: Immer mehr Unterlagen und Artefakte sollen im Interesse einzelner Gruppen aufbewahrt, ja möglichst öffentlich oder für Forschungszwecke zugänglich gemacht werden. Auf Dauer wird dieses Problem nicht zu lösen sein. Manches löst sich jedoch von selbst: So wurde 1989/90 ein Teil der Stasi-Akten vernichtet; mangels Reißwolf oft genug durch Zerreißen von Hand, was eine Rekonstruktion möglich macht. Das diese Akten als Nachweis der Überwachung einer ganzen Gesellschaft und der Unterdrückung erhalten bleiben, ist ohne Frage wichtig.

Wenn die Akten weg müssen

Heute allerdings wäre die Aktenvernichtung durch Zerreißen von Hand undenkbar, weil Daten dadurch dennoch in falsche Hände gelangen können. Außerdem ist angesichts der anfallenden Mengen zu vernichtender Akten, etwa weil Aufbewahrungsfristen ablaufen, die Handarbeit schlichtweg unmöglich. Hier ist das Tätigkeitsfeld von Unternehmen, die nicht nur eine professionelle Aktenvernichtung garantieren, sondern auch Datenträger und Kommunikationsgeräte, die Daten gespeichert haben, vernichten und recyceln.

Auf Papier geführte Akten sind nicht nur Staubfänger, sondern nehmen Platz weg – und das geht auf die Dauer ins Geld. Deshalb ist es ein Gebot der Wirtschaftlichkeit, den Umgang mit dem “Gedächtnis auf Papier" zu überdenken:


    • Welche Akten können nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist entsorgt werden?
    • Für welche Akten ist es aus welchen Gründen sinnvoll, diese über die gesetzliche Aufbewahrungsfrist hinaus aufzubewahren?
    • Kann die Aktenaufbewahrung in digitalisierter Form erfolgen?

Die Geschichte ausradieren?

Eine andere Frage ist, dass immer wieder Interesse daran besteht, an bestimmte Ereignisse nicht zu erinnern, sie quasi aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Wie im berühmten Roman "1984" von George Orwell, erschienen 1949, gibt es auch heute Versuche, die Vergangenheit zu korrigieren oder zumindest umzudeuten. Im Zeitalter des digitalen Gedächtnisses ist längst ein Kampf um die Deutungshoheit von Ereignissen und um den Wahrheitsgehalt tatsächlicher oder vermeintlicher Fakten entbrannt.

Klar ist nur: Die digitalen Spuren, die jeder hinterlässt, bilden eine Datenwolke, von der die Stasi wohl nicht einmal zu träumen wagte. Chinas Social Credit System zeigt, wie eine digitalisierte Gesellschaft auf neue Weise als Überwachungsstaat entarten kann.

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  • Quelle: red | Foto: © Görlitzer Anzeiger
  • Erstellt am 23.01.2023 - 11:45Uhr | Zuletzt geändert am 23.01.2023 - 12:42Uhr
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