Das Schlüsselkind stirbt aus
Görlitz, 19. Januar 2023. Von Thomas Beier. Es war einmal ein Staat, in dem die Mächtigen erwarteten, dass ein jeder - und nicht zuletzt jede - einer Arbeit nachgeht. Eine Folge waren die sogenannten Schlüsselkinder, die mittlerweile ebenso aussterben wie die Schlüssel selbst.
Ausbeutung statt Produktivität
Dieser Staat entstammt nicht einem Märchen, sondern war die leibhaftige "DDR", in der es zudem überhaupt nicht märchenhaft zuging. An der Tagesordnung war neben langen Arbeits- und kurzen Urlaubszeiten eben auch die Pflicht zur Arbeit, dialektisch verbunden mit dem Recht auf Arbeit. Wer keiner geregelten Arbeit nachging, konnte zur "Bewährung in der Produktion" verurteilt werden – ein Schicksal, das auch viele Haftentlassene traf.
Die "DDR"-Wirtschaft war nach anfänglichen Erfolgen – vor allem dort, wo man technisch-technologisch an die Vorkriegszeit anknüpfen konnte wie etwa bei den DKW-Zweitaktmotoren für die Pkw-Produktion – zunehmend unproduktiver geworden. Es entstand die paradoxe Situation, dass neben dem Schlendrian in vielen Bereichen Arbeitskräfte verschärft ausgebeutet wurden.
Ausbeutung meint etwa viel zu schnell laufende Fließbänder mit monotoner Arbeit, die Hinnahme gesundheitsgefährdender Arbeitsbedingungen und Technologien sowie schwere körperliche Arbeit auch dort, wo moderne Maschinen längst hätten eingesetzt werden können. Wegen der geringen Produktivität waren Arbeitskräfte wie nahezu alles im sozialistischen Wirtschaftssystem Mangelware, die Rationalisierung kam nur langsam voran und beschränkte sich oft nur auf Effekte auf dem Papier.
Hauptsache teuer!
Nicht umsonst sprach man von einem System der organisierten Verantwortungslosigkeit. Ein Beispiel aus der Görlitzer Industriegeschichte, aus einem Rationalisierungsmittelbau, über den wohl die allermeisten der volkseigenen Produktionsbetriebe als eigene Abteilung verfügten: Ein Rationalisierungsmittel, eine kleine Sondermaschine, wurde mit Kosten von 150.000 Ostmark geplant – und das ging betriebswirtschaftlich auf, die Maschine hätte sich in angemessener zeit amortisiert. Was im konkreten Fall nicht aufging, war die Planerfüllung, konkret die Erfüllung des Rationalisierungsmittelplans, der für das Jahr die Herstellung von Rationalisierungsmitteln für vielleicht 1,5 Millionen Ostmark vorsah.Die sozialistische Lösung, um den geplanten Wert zu erreichen: Es wurden nicht etwa weitere, die Produktivität verbessernde Maschinen gebaut, nein, die Maschine musste teurer werden! Im konkreten Fall wurden die Produktivität kaum steigernde Gerätschaften angebaut, bis die Sondermaschine mit einem Wert von 380.000 Ostmark zum schließlich durch solche Methoden erfüllten Plan beitrug. Dass sie damit aber für ihren Einsatzzweck viel zu teuer war und sich nicht mehr rechnete, war völlig egal – Hauptsache: Plan erfüllt und Jahresendprämie gesichert!
Schlüsselkinder gab es in Ost und West
Die auch dem modernen kapitalistischen System gern vorgehaltene Ausbeutung des Menschen ist – wenn überhaupt – eine Ausbeutung wirtschaftlicher Natur, während das sozialistische System bis zu seinem Untergang ganz bewusst auch auf die physische Ausbeutung der Arbeitskraft setzte. Wo in Familien beide Elternteile arbeiten mussten, oft im Schichtsystem oder sogar in rollender Woche, entstanden – übrigens in Ost- und Westdeutschland – die Schlüsselkinder, die zumindest einen Teil des Tages unbetreut verbringen und zu diesem Zweck einen eigenen Wohnungsschlüssel besitzen mussten. Manchmal wurde der, um nicht verlorenzugehen, an einem Band um den Hals getragen.Schlüsselkinder verschwinden mit den Schlüsseln
Die Zahl der Schlüsselkinder ist aus unterschiedlichen Gründen stark zurückgegangen. Heute würden allenfalls zehn- bis vierzehnjährige dieser Kategorie zugeordnet werden, wie im oben verlinkten, auf familienhandbuch.de erschienenen Beitrag über Schlüsselkinder nachzulesen ist. Allerdings verweist die Autorin Christina Zehetner zugleich darauf, dass die modernen Schlüsselkinder oft gar keine herkömmlichen Schlüssel mehr haben: Sie öffnen die Türen mit Fingerabdruck, RFID-Chips oder Zahlencode-Schlössern.Damit ziehen Technologien, wie sie in größeren Organisationen oder öffentlichen Einrichtungen wie Schwimmbädern zu finden sind, in die Privatsphäre ein. Vermutlich gibt es wirklich kein Schwimmbad mehr, in dem man ein Spindschloss mit Schlüssel öffnen oder verschließen kann. Meist werden die sehr preiswerten RFID-Mikrochips verwendet, die bei Annäherung das elektromechanische Schloss öffnen oder schließen. Während bei Schließsystemen der Verlust eine Schlüssels richtig teuer werden kann, lassen sich die per Funkchip betätigten Schlösser auf einen neuen Code umprogrammieren. Es lassen sich Zugangsberechtigungen vergeben und in der Arbeitswelt Zeiterfassungssysteme einbinden.
Resümee
Das Schlüsselkind stirbt aus, wird aber nicht vom "Funkchipkind" oder "Fingerabdruckkind" abgelöst – ein Zeichen dafür, dass sich nicht nur Technologien, sondern auch gesellschaftliche Normen ändern: Ab einem gewissen Alter wird Kindern heutzutage mehr Selbständigkeit zugetraut.-
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- Quelle: Thomas Beier | Foto: weinstock / Uwe Baumann, Pixabay License
- Erstellt am 19.01.2023 - 15:54Uhr | Zuletzt geändert am 19.01.2023 - 16:32Uhr
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