Der andere Wahlkampf ist grün
Görlitz, 20. Mai 2019. Von Thomas Beier. "Es geht um die Wurst!", das ist auch der Görlitzer Oberbügermeisterkandidatin Franziska Schubert klar, weshalb die Fleischerstochter nach ihrem gemeinsamen Wahlkampfauftritt mit dem Bündnis90/Die Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck der Bratwurst nicht widerstehen konnte. Auch sonst vermittelte die Veranstaltung vom gestrigen Sonntagabend im Stadthallengarten ein Bild von "den Grünen", dass so gar nicht zu den von interessierten Kreisen am Leben gehaltenen Vorurteilen passte.
Abbildung oben: Oberbürgermeisterkandidatin Franziska Schubert zeigt Robert Habeck auf der Görlitzer Altstadtbrücke die Dreiradenmühle. Dort, auf polnischer Seite, haben ihre Unterstützer ein riesiges Transparent angebracht und aufs Dach die Europafahne gesetzt
Der Wandel findet statt – ob nun gestaltet oder im Selbstlauf
Thema: Oberbürgermeisterwahl Görlitz
Am 26. Mai 2019 wird in Görlitz im ersten Wahlgang über einen neuen Oberbürgermeister resp. eine neue Oberbürgermeisterin abgestimmt. Amtsinhaber Siegfried Deinege tritt nicht noch einmal an.
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Zu Glück kann man Menschen, bevor sie zu Taten schreiten, oft an ihren Worten erkennen – es sei denn, sie müssen Kreide fressen ("Mäßigung im Ausdruck!), damit nicht ruchbar wird, welcher Geist sich da zusammenballt. In ihrer Wortwahl verstellen mussten sich die blitzgescheite Franziska Schubert und der offen und nachdenklich sprechende Robert Habeck nicht – ein Wohlklang im Wahlkampfgetöse. Nachdenklich, weil Habeck realisiert hat, was empfindsame Gemüter in Osten bewegt: Während der Osten schon zu "DDR"-Zeiten immer auf den Westen geschielt hat und Politik, Musik, Literatur und Wohlstand aufgesogen hat, war der Osten hinter seinem selbst errichteten Eisernen Vorhang aus Westsicht nicht sonderlich spannend. Das kann man bejammern – oder als Chance sehen, so, wie die im Jahr 2014 beigetretene Schubert ihre Bündnis 90-Verortung bei den Gestaltern der Friedlichen Revolution ab Februar 1990 in die Waagschale wirft. Übrigens entstand Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen schon anderthalb Jahre vor der Vereinigung auf Bundesebene.
Auffällig sind im Görlitzer Wahlkampf die Unterschiede im Sprachgebrauch schon: Während andere auf Ankündigungs- ("Ich werde...!") und Symbolpolitik ("Wir brauchen...!") setzen, sind für Schubert bei anstehenden Fragen die Analyse und die Beteiligung Betroffner wichtig, bevor Entscheidungen gefällt werden. Diese Vorgehensweise widerlegt den bösartigen Pauschalvorwurf von der "Verbotspartei". Habeck hat das anhand des Pkw-Verkehrs in den Citylagen der Großstädte erläutert: Dort verzichten immer mehr Bewohner angesichts von Parkplatzmangel und Staus auf einen eigenen Pkw, Aufgabe der Politik sei es, Ersatzangebote zu schaffen, die akzeptiert werden. Wenn man weiter denkt: So gelingt es, dass noch mehr Leute erkennen, dass der eigene Pkw am Ende mehr Last als Lust ist. Dass der private Pkw hingegen im ländlichen Raum noch lange unverzichtbar bleibt, weiß auch Habeck. Für Görlitz muss die Entwicklung weiter in Richtung eines barrierearmen, gut abgestimmten und preiswerten Bus- und Straßenbahnverkehrs gehen; Schubert wünscht sich beispielsweise eine Übersichtsanzeigetafel zum ÖPNV vor dem Bahnhof und das bargeldlose Bezahlen.
Und so finden sich ähnlich wie beim Autoverkehr in den Innenstädten viele von den Grünen erkannte Themen, wo ein Wandel stattfindet, was für viele Görlitzer stressig erscheinen mag: Sehr viele Menschen auf der deutschen Seite der Lausitzer Neiße haben in ihrer Familiengeschichte Flucht und Vertreibung, nach 1989 änderte sich wieder im Grunde alles und dann konnte man sich nicht mal auf die D-Mark verlassen: Der Euro kam, die Grenzen traten in den Hintergrund, In- und Ausländer entdeckten Görlitz als attraktive Stadt und das so beschauliche Görlitz gewinnt seit Jahren an gesellschaftlicher Dynamik, wozu Zugereiste und eine jüngere Generation, die man von Ende 20 bis Ende 40 verorten kann, maßgeblich beitragen. Nun der Braunkohleausstieg, die Kohlendioxid-Reduzierung, mehr umweltverträgliche Landwirtschaft und Tierwohl, unbelastete Lebensmittel, Abfallvermeidung, überhaupt eine Stadt, die in Bezug auf Wohnen, Verkehr, Kultur und Erholung für alle Generationen und sozialen Schichten attraktiv ist – im Grunde ist wie alle Bürger auch jeder Görlitzer betroffen, wenn es darum geht, Kindern und Enkeln ein lebenswerte Welt zu hinterlassen. Diese "Enkeltauglichkeit", auch in finanziellen Fragen, haben sich im besonderen Maße Schuberts Unterstützer von Motor Görlitz, dem kommunalpolitischen Netzwerk, neben einer ausgeprägten Bürgerbeteilung auf die Fahnen geschrieben. Für eine lebendige Stadtgesellschaft stehen auch die weiteren Schubert-Unterstützer wie beispielsweise der Bürger für Görlitz e.V. und die SPD. Für Habeck sind solche Bündnisse die Zukunft, womit er sicher recht hat: Parteien allein mit ihren häufig festgefahrenen Positionen und Feinbildern sind nur bedingt kooperations- und damit handlungsfähig, wie die aktuelle GroKo beweist.
Das ist in der Politik wie in der Wirtschaft: Man kann nichts herbeizitieren oder eine Entwicklung vorbestimmen, man kann sich nur über gemeinsame Ziele verständigen und schauen, was erfolgversprechend zu tun, welche Partner als Akteuere ins Boot müssen und wer als Betroffener befragt werden muss. Das ist der Ansatz von Franziska Schubert, im Gegensatz zu hanebüchenen Forderungen wie der nach einer Sonderwirtschaftszone mit Steuervorteilen (so kann man Kommunen ruinieren) oder nach einer neuen Gründerzeit, wenn es keine idee gibt, wodurch die ausgelöst werden sollte. Die anerkannte Haushaltspolitikern Schubert kennt das Zusammenspiel der nowendigen harten Fakten wie finanzielle Budgets und rechtliche Rahmenbedingungen und der weichen Faktoren, durch die Verbesserungen erst möglich werden. Ein bundnisgrüner Oberbürgermeister wäre deutschlandweit gesehen ein Stück Normalität, bislang haben es mehr als hundert Bündnisgrüne als Bürgermeister oder Oberbürgermeister auf die Sessel geschafft, allerdings könnte Görlitz damit punkten, die erste grüne Oberbürgermeisterin zu haben. Dass von Bürgerbewegungen getragene Kandidaten reelle Chancen auf Erfolg haben, hat im Landkreis Görlitz der seit 2015 im Amt befindliche Zittauer Oberbürgermeister Thomas Zenker (Zittau kann mehr e.V.) bewiesen.
Was Habeck und Schubert vermitteln, ist nicht Angst vor der Zukunft, Angst vor Kriminalität, Angst vor sozialem Abstieg, sondern es sind pragmatische Herangehenweisen an die Fragen, die anstehen. Angst vor Veränderungen löst ebenso wie Überwachungskameras keine Fragen und Probleme. Und Schubert und Habeck stehen für noch etwas, nämlich dass die leidige Ost-West-Thematik sich in gemeinsamen Themen auflöst. Ob nun Steinkohlekumpel im Ruhrpott oder Braunkohlekumpel in der Lausitz, die Leute haben exakt die gleichen Sorgen, so wie in Görlitz und Zgorzelec im Alltag mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes bestehen. Wenn die beiden Hälften der Europastadt an Lausitzer Neiße sich nicht mit Kameras belauern, sondern noch viel stärker als bisher auf Zusammenarbeit, Stärkenausgleich und Austausch setzen, ist mir um eine gedeihliche Entwicklung auf beiden Seiten nicht bange.
P.S.: Wenn Görlitz mit Infrarot-Überwachungskameras (die sehen auch nachts, ohne dass es der Mensch bemerkt) bestückt wird, welches Liebespärchen will dann im Schutze der Dunkelheit noch knutschen? Die Folgen für die Bevölkerungsentwicklung sind noch gar nicht abzusehen...
Der Weißwasseraner Anzeiger berichtet:
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- Quelle: Thomas Beier | Fotos: @ Görlitzer Anzeiger
- Erstellt am 20.05.2019 - 11:43Uhr | Zuletzt geändert am 20.05.2019 - 17:09Uhr
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