Frischer Wind und alte Hüte
Görlitz. 17. Mai 2019. Von Dr. phil. Carsten Schmidt. Als Neugörlitzer kann ich mich nicht weit aus dem Fenster lehnen, aber ich möchte gern wiedergeben, was ich in den letzten fünf Monaten in der Stadt wahrgenommen habe vom "Wahlweg" und wie ich die Chancen der vier OB-KandidatInnen sehe.
Abbildung: Der Görlitzer Rathausturm symbolisiert das Objekt der Begierde
Mehr Offenheit und Selbstbewusstsein

Thema: Oberbürgermeisterwahl Görlitz

Am 26. Mai 2019 wird in Görlitz im ersten Wahlgang über einen neuen Oberbürgermeister resp. eine neue Oberbürgermeisterin abgestimmt. Amtsinhaber Siegfried Deinege tritt nicht noch einmal an.
- Glückwunsch und Wunsch nach Veränderung [17.06.2019]
- Ursu dankt seinen Wählern [17.06.2019]
- Weißer Rauch über dem Görlitzer Rathaus [17.06.2019]
Als "neueste" Frau war Jana Lübeck (Linke) im Frühling dazugekommen, während die anderen KandidatInnen schon einige Monate vorher ihren Hut ins Rennen warfen. Ich glaube, dass sie in der Wahrnehmung gut aufgeholt hat, wenngleich sie auf einer Bühne im Vergleich mit den anderen zusammen erkennbar nicht den recht geschliffenen "Politik-Sprech" bedient, sondern sich vielleicht noch erst in die Rolle einer Politikerin einfindet.
Zusammen mit Franziska Schubert, die ja von einem immer breiter werdenden Bündnis gestützt wird – ich glaube, auch die SPD hat ihren Sympathisanten eine Wahlempfehlung für Franziska Schubert formuliert – steht Jana Lübeck allerdings für ein OB-Angebot der weiblichen jungen Generation, die Offenheit und ein Miteinander wollen. Franziska Schubert wird nach meinen Augen und Ohren von vielen als die rhetorisch stärkste Kandidatin gesehen, die sich durch ihre Erfahrung im Landtag sowie durch ihre vielseitigen Kompetenzen von Siemens bis zu Sozialeinrichtungen Respekt erworben hat in einer Stadt, die ganz sicher nicht leicht zu knacken ist für Menschen, die nicht hier geboren sind. Jedenfalls geht von diesen beiden weiblichen Kandidaten ein meiner Meinung nach frischer, sympathischer Wind aus.
Was ich jedoch kaum glauben konnte und immer noch nicht begreife, sind die uralten Themen und Ansichten, die tatsächlich die beiden anderen Kandidaten Octavian Ursu (CDU) und Sebastian Wippel (AfD) vertreten und ansprechen. Dadurch wirken beide Kandidaten noch 20 Jahre älter als sie sind, weil sie den Wählern andeuten, dass es bei dem ewig bedienten Pendel zwischen "Sicherheit vs. Freiheit" nur ein Entweder-Oder gibt, und das stimmt einfach nicht.
Octavio Ursu hat wohl eine gute Bekanntheit in Görlitz und pocht viel auf dem herum, was er angeblich schon gemacht hat und dass der Ministerpräsident ihn stark unterstützt. In einem Flyer präsentiert er sich als Retter von Siemens, was ich wirklich absurd finde, denn wenn global agierende Konzerne Milliarden-Aufträge bekommen und sich umorientieren, wird niemand auf einen Octavio Ursu hören. Von daher fände ich es sinnvoll, als Stadt durchaus selbstbewusst aufzutreten, aber sich auch nicht in den Staub zu werfen vor Konzernen.
Sowohl Wippel als auch Ursu stellen sich gern mit Kameras dar, als würden die die Kriminalität schlagartig senken. Es ist nun nachweislich so, dass in Brooklyn, in Bremen-Tenever und im Berliner Rütli-Kiez nicht Kameras geholfen haben, sondern Sozialarbeiter. Und auch in Madrid, Paris, Brüssel oder London – Städte, die vor Polizei und Kameras nur so wimmeln – hat es schlimme Anschläge gegeben und die Kriminalität dort ist vollkommen jenseits der von Görlitz.
Behörden und Polizei müssen ordentlich ausgestattet sein und handlungsfähig agieren können, vollkommen klar. Ich erkenne das aber nicht in der Wahlwerbung, ich erkenne nur die Suggestion, dass mit höheren Zäunen und mehr Kameras angeblich morgen alles besser würde. Wenn das so ist, dann könnten die männlichen Kandidaten das Schild "Europastadt" gleich mit abschrauben und die mittelalterliche Stadtmauer wieder aufbauen lassen und Wegezoll von jedem verlangen, der vorbeikommt.
Ich glaube aber nicht, dass sie das wollen. Es kann sein, dass Ursu und Wippel ernsthaft Vorschläge machen wollen für eine bessere Stadt, nur dass das durch die DNA-Analyse von Hundekot oder durch enge Kumpanei mit Identitären oder noch abseitigeren Akteuren gelingt, kann ich mir nicht vorstellen. Vor Hochschul-Publikum sagte Wippel vor ein paar Tagen, dass er – wenn er sich eine Superkraft wünschen könnte – gern die Gedanken der Menschen kontrollieren würde. Ich glaube, dass kein Kommentar dazu notwendig ist, sondern jede und jeder in sich hineinhören kann und spüren kann, was das Zitat in einem auslöst.
Görlitz ist für mich eine Stadt, die nach außen dafür wirbt, eine der schönsten Städte Deutschlands zu sein und Tagestouristen zwischen Brslau (Wrocław), Prag (Praha) und Dresden anlockt. Es gilt künftig, denke ich, nicht zu viele BürgerInnen in die Richtung der Angst, der Hetze und Engherzigkeit zu entlassen, die sich nicht das nach außen gepflegte Selbstbewusstsein der Stadt nicht zu eigen machen können, sondern bequem oder mutlos sind. Nur: Wegschauen hatten wir schon, Gegeneinander hatten wir schon. Beides endet oftmals im Krieg.
Görlitz würde ein bisschen mehr Offenheit und Selbstbewusstsein guttun. Das wünsche ich den Bürgern dieser Stadt.
Dr. phil. Carsten Schmidt, Mag., ist freier Lektor und Autor und lebt in Görlitz.
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- Quelle: Dr. phil. Carsten Schmidt | Fotos: © Görlitzer Anzeiger
- Erstellt am 17.05.2019 - 01:09Uhr | Zuletzt geändert am 17.05.2019 - 01:55Uhr
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