Görlitzer Oberbürgermeister zu Siemens

Görlitzer Oberbürgermeister zu SiemensGörlitz, 17. November 2017. Zur für 2023 vorgesehenen Schließung des Görlitzer Siemens-Werkes hat der Görlitzer Oberbürgermeister Siegfried Deinege, der selbst jahrelang Werkleiter am Görlitzer Standort eines Weltkonzerns war, heute das untenstehende Statement abgegeben.
Abbildungen: Am Siemens-Werk in Görlitz, das im Innenbereich über eine hochmoderne Fertigungshalle verfügt.

Foto: Matthias Wehnert
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Oberbürgermeister Deinege will für den Standort kämpfen

Oberbürgermeister Deinege will für den Standort kämpfen
Foto: Matthias Wehnert

Oberbürgermeister Siegfried Deinege: "Die verkündete Entscheidung hat einschneidende Wirkung für unsere Stadt. Damit findet ein geplanter Ausverkauf statt, der vor allem unsere jungen Familien betrifft. Ich bin über die Eiseskälte der sozialen Marktwirtschaft und die Umgangsformen, mit denen man unsere Siemensianer speziell in Görlitz behandelt, tief erschüttert. Hier das Werk zu schließen, ist der Weg des geringsten Widerstandes. Das Werk liegt im Osten, die Gewerkschaften sind noch jung und von den Verbänden hört man nicht viel. Da geht es nicht wirklich um Produktivitätsfaktoren, die eigentlich für die Entscheidung zählen sollten, sondern um geringere Abfindungszahlungen und die schwache wirtschaftliche wie politische Lobby für den Osten.

Die Entscheidung ist auch eine Katastrophe für unseren Mittelstand, für die Zulieferer, für den Handel und viele weitere Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens für uns hier vor Ort.

Uns allen muss in diesen Stunden klar sein, dass dies – sollte die durch Siemens verkündete Entscheidung tatsächlich umgesetzt werden – ein schwerer Rückschlag für die Entwicklung unsere Stadt und unserer gesamten Region wäre. Das ist für uns hier in Ostsachsen und für Deutschland nicht zu verantworten. Die Bundespolitik darf nicht länger zuschauen, dass eine gesamte Region durch solche massiven Fehlentscheidungen abzukippen droht.

Ein deutsches Unternehmen muss sich der Frage stellen, wie es seiner Verantwortung in unserem Land gerecht wird.

Warum wird nicht nach kreativen Umstrukturierungen gesucht, um ein Werk wie Görlitz, das bereits heute die Anlagen baut, die für die Energiewende nötig sind und damit zukunftsweisend arbeitet, zu erhalten oder vielleicht sogar auszubauen? Für den Standort Mühlheim findet man Lösungen. Für den Standort Görlitz sind Bemühungen nicht erkennbar. Diese erwarte ich aber, um Arbeitsplätze und damit die Zukunft gerade auch an unserem Standort für die Familien zu sichern. Ich fordere hierzu klare Aussagen seitens des Konzerns – und von der Bundespolitik endlich wirksames Handeln und Unterstützung für unsere Bevölkerung in Ostsachsen.

Ich werde die Gespräche zur Zukunft unseres Standortes mit der Bundesregierung und der Konzernleitung suchen. Darüber hinaus stehe ich in engem Kontakt mit der Görlitzer Werksleitung und den Betriebsräten.

Unsere Stadt wird bei diesem geplanten Ausverkauf nicht zuschauen, sondern kämpfen. Denn diese Entscheidung ist eiskalt, brutal und muss demzufolge bekämpft werden. Und das mit ganzer Kraft."


Kommentar:

Da packt der Oberbürgermeister auf den Tisch, was zu sagen ist, gut so. Und er zeigt sich handlungsfähig, noch besser.

Sagen und auf den Tisch packen könnte man noch viel mehr, denn die Struktur- und Wirtschaftsentwicklungsherausforderungen in Sachsen sind nicht auf Siemens beschränkt. Nicht ohne Grund gärt es unter den Kommunalvertretern im Freistaat: Nach dem "Positionspapier für die Lausitz" von regionalen Spitzenvertretern haben gestern 21 parteiunabhängige Bürgermeister im Erzgebirge aufgemuckt, weil die Landespolitik immer mehr an den Bedürfnissen und Anforderungen der kreisangehörigen Kommunen, vor allem im ländlichen Raum, vorbeigeht. Was bei Siemens der Rekord-Gewinn ist, sind beim Staat die Rekord-Steuereinnahmen, trotz derer die Finanzausstattung der Kommunen nicht ausreicht. Besonders in der Kritik steht auch die übertriebene, exzessive Fördermittelbürokratie.

Auch in den Sozialen Netzwerken werden die Siemens-Entscheidung zur Schließung des Werkes in Görlitz und der Personalabbau insgesamt diskutiert, besser: kritisiert. Für den Görlitzer Anzeiger habe ich stellenweise mitgemacht. Daraus die nachstehende, bearbeitete Zusammenfassung:

Noch ist Siemens da, noch wird besser verdient als im "normalen" Görlitzer Arbeitsmarkt (wenn man davon überhaupt reden kann). Da sind wüste Beschimpfungen gegen das Siemens Management schlichtweg unangebracht, schließlich profitieren Stadt und Einwohner noch vom Werk. Nach der Schock- und der Wutphase sollten jedoch rationale Überlegungen (wie obenstehend Oberbürgermeister Deinege) einsetzen, was jetzt zu tun ist.

Wirklich entsetzlich finde ich - obwohl man ihnen zugute halten muss, dass sie sich überhaupt äußern - welche Einblicke in ihre Gedankenwelt einige Parteipolitiker geben, anstelle die richtigen Fragen zu stellen. Glaubt wirklich jemand, dass Siemens von boshaften Blödleuten geführt wird, die man nun unter Druck setzen muss, damit sie eine Entscheidung revidieren?

Wer in der Wirtschaft oder auch in der Politik erfolgreich unterwegs sein will, muss die aktuelle Lage annehmen, wie sie ist, und dann in erfolgverprechende Richtungen zu denken. Dazu gehört, sich nicht mit Emotionen aufzuhalten oder in der Situation, in der das Kind im Brunnen liegt, unnütze Ursachenforschung zu betreiben: Es kommt vielmehr darauf an, zunächst die richtigen Fragen zu stellen, damit das Denken in die erfolgversprechende Richtung geht. Ich hoffe, dass diese Phase nach dem Protest und all dem Wir-kämpfen-bla-bla noch kommt. Es glaubt doch niemand, dass Blechtrommeln vor dem Werktor, wie gestern am Abend, wirklich etwas anderes bewirken, als die eigene, verletzte Seele der Protestierenden zu Streicheln und den Linken zu suggerieren, dass sie es sind, die Recht haben.

Der Kritikansatz an Siemens könnte ein anderer sein: Wie weit kann Siemens soziale Aspekte bei seinem erklärten Wandel zum digitalen Unternehmen einfließen lassen bzw. hat die Siemens-Top-Etage das überhaupt ins Kalkül gezogen? Da kann man sicher lange diskutieren, Fakt ist aber der marktwirtschaftliche Grundsatz: Ein Unternehmen muss Waren und Dienstleistungen erzeugen, die gekauft werden. Gelingt das nicht, verschwindet das Unternehmen samst seiner sozialen Funktion. Siemens macht aktuell nichts anderes, als sich auf Waren und Dienstleistungen auszurichten, die in Zukunft verkaufbar sind. Dahinter steht freilich das Profitinteresse der Aktionäre als Triebkraft, die zur Beschäftigung von Arbeitnehmern führt – dazu muss man auch sagen: wegen der Digitalisierung zur Beschäftigung von immer weniger Arbeitnehmern. Dass mit Joe Kaeser ein ausgesprochener Betriebswirt an der Siemens-Spitze steht, dürfte diesen Prozess verschärfen.

Klar dürfen die Görlitzer das, was hier bei Siemens passiert, aus ihrem Blickwinkel scharf kritisieren. Vielleicht hat, getrieben von den Protesten, die Politik eine Chance, Siemens hierzuhalten – zu Lasten welches anderen Standorts, um welchen Preis? Dieser Kampf, den Status quo festzuzurren, ist jedoch auf lange Sicht nicht zu gewinnen. Nicht ohne Grund treibt Siemens den Wandel voran: Der Konzern will ein Spitzenunternehmen bleiben.

Es geht also darum, zu beschreiben und zu anlaysieren, was abläuft. Das würde so manchem Politiker übrigens auch guttun – statt zu nur protestieren, gar zu "kämpfen" oder Schuldzuschiebungskreisläufe aufzubauen. Eine sehr nüchterne Analyse der Ist-Situation ist nun mal der Anfang allen Handelns. Nun aber bitte nicht die ausgelutschten Managementmethoden anwenden, die so manche Hochschule als das Nonplusultra feiert.

Wenn der Wandel – hier die Digitalisierung und das Ende der Kohleverstromung – zur Veränderung zwingen, gibt es zwei Grundsätze:

  • Der erste ist, den unaufhaltbaren Wandel mitzugestalten, sich also nicht zum Spielball zu machen. Das macht Siemens.
  • Der zweite Grundsatz ist, auf potenzialreiche Felder zu gehen, auf denen man aber möglichst viel von seiner bisherigen Eignung wieder anwenden kann. Das macht Siemens, zumindest für den Standort Görlitz, nicht.

Hier, beim zweiten Grundsatz, liegt der Gesprächsansatz. Was ist es denn, was gegen Görlitz spricht: Die Lage, fehlender Nachwuchs, Schwierigkeiten, Experten anzuheuern, das provinzielle Umfeld, das Dunkelsachsen-Syndrom? Oder ist es einfacher, die Görlitzer Produktion an einem anderen Standort zu integrieren und diesen damit auszulasten, als die Produktion in Görlitz zu belassen? Nur wer die wirklichen Beweggründe kennt, kann argumentieren und den Siemens-Konzern an Lösungen beteiligen.

Für seine Gespräche ist dem Görlitzer Oberbürgermeister Siegfried Deinege, der zum Glück ein erfahrener Industriemanager ist, ein gutes Händchen und Durchsetzungskraft zu wünschen,

meint Ihr Thomas Beier



Lesen Sie zur Entwicklung bei Siemens Görlitz im Görlitzer Anzeiger:

Kommentare Lesermeinungen (1)
Lesermeinungen geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich das Recht zu sinnwahrender Kürzung vor.

Siemens in Deutschland

Von Lutz Teuscher am 22.11.2017 - 00:22Uhr
Hier ist investigativer Journalismus mit Faktenwissen gefragt. Unhöflichkeit und Unterstellungen haben bei allen Menschen den Affekt, jetzt kommt doch der Osten als .... rüber. Gespräche suchen und die Truppen sammeln.

Den Menschen in der Region nun mal zeigen, wie wichtig Gewerkschaftsmitgliedschaft sein kann. Kostet nur was und hat sowieso keinen Sinn, kennt Ihr das unter den jungen Leuten in der Region.

Also los und was tut und nicht die alte Leier mit nicht bewiesenen Fakten und Unterstellungen. Tut was und zwar alle betroffenen Mitarbeiter, Händler, Verkäufer, städtische und kommunale Angestellte. Auch Beamten würde ich dies nahelegen.

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  • Quelle: red | Kommentar: Thomas Beier | Fotos: Matthias Wehnert
  • Erstellt am 17.11.2017 - 15:54Uhr | Zuletzt geändert am 05.02.2021 - 08:15Uhr
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