Ansage an Bund und Land aus dem Kreis Görlitz
Landkreis Görlitz, 30. September 2022. Von Thomas Beier. "Die Einschläge kommen näher", sagte man im Krieg, wenn sich die gegnerische Artillerie einschoss und die Granateinschläge auch den Hartgesottensten zum Vaterunser verleiteten. Ein ähnliches Gefühl einer eskalierenden Situation macht sich nun auch in der Bevölkerung breit. Krieg in der Ukraine, Teuerung, Energiekrise, Angriff auf die North Stream Gasleitungen. Kein Wunder, dass die Lokalpolitik, die den Leuten am nächsten ist, Alarm schlägt.
Wirr ist das Volk – und die Bundesregierung?
Ein Stück Schuld an der allgemeinen Verunsicherung haben "die Medien", selbstverschuldet und auch nicht. Ein Beispiel ist die stereotype Wiederholung von Standardbegriffen wie der vom "russischen Angriffskrieg" oder den "Scheinwahlen". Der gelernte Ossi erinnert sich dabei an die Zeiten, als die Presseorgane der Bezirksparteileitungen, die ihre Namen noch heute tragen, keinen Millimeter von dem abwichen, was ihnen zu verkünden aufgetragen war. Kein Wunder also, dass Berichterstattung oft als einseitig empfunden wird. Gibt es auch unter Journalisten eine Art vorauseilenden Gehorsams, der bestimmte Themen ausspart beziehungsweise Formulierungen bevorzugt?
Schon kommt es zum Eindruck, als ob pragmatische Denker nicht mehr willkommen sind. Als Ministerpräsident Michael Kretschmer mahnte, man könne die deutsch-russischen Beziehungen nicht ewig auf Eis legen und dürfe die Wirtschaft nicht zugrunderichten, setzte ein Shitstorm sogar aus Berliner Regierungskreisen ein. Doch gerade die deutsche Außenpolitik scheint immer wieder reichlich naiv, etwa bei Boykottüberlegungen: Das eine boykottieren wir sofort, das andere später – ohne einzurechnen, dass der Boykottierte auf die Idee zu Gegenreaktionen kommen könnte.
Bei all dem darf es keinen Zweifel daran geben, dass Putin ein diktatorisches System geschaffen hat, auf das wohl sogar die Sowjetführer, die nach Stalin die Bühne betraten, neidisch wären, denn sie unterlagen immerhin der Kontrolle eines Politbüros. Und es gibt keinen Zweifel an Putins Schuld und der seiner Helfer an dem verdammten Krieg.
Verstörend für viele wirkt das Geprassel in den Medien des digitalen Zeitalters. In den sozialen Medien tauchen Plattformen auf, die vordergründig für den Frieden eintreten und über dieses Vehikel ihr antidemokratisches Gedankengut verbreiten. Zugleich läuft die Medienwelt just-in-time, was mittel- und langfristiges Regierungshandeln nahezu unmöglich macht, weil immer nur der der aktuelle Schritt unmittelbar diskutiert wird und sofort neue Forderungen hervorruft. Soweit zur Einstimmung auf einen heute bekanntgewordenen offenen Brief, den Landrat Dr. Stephan Meyer und einige Bürgermeister auf den Weg gebracht haben.
Der Sächsische Städte- und Gemeindetag (SSG) und der Sächsische Landkreistag (SLKT) haben sich am 14. September 2022 bereits klar und deutlich zur Energiekrise geäußert. In einem offenen Brief an den Bundeskanzler und Ministerpräsidenten erklären nun Landrat Dr. Stephan Meyer und die unterzeichnenden Bürgermeister als Repräsentanten des Kreisvorstandes des Sächsischen Städte- und Gemeindetag (SSG) die Unterstützung dieses Papiers und seiner klaren Forderungen. Sie empfinden jedoch die aktuelle Lage als so gravierend für die Menschen in unserem Landkreis, dass noch weitere Ergänzungen folgen müssen.
Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz und alle Regierungsparteien der Bundesrepublik Deutschland sowie an Ministerpräsident Michael Kretschmer und alle Regierungsparteien im Freistaat Sachsen
Der Sächsische Städte- und Gemeindetag (SSG) und der Sächsische Landkreistag (SLKT) haben sich am 14. September 2022 bereits klar und deutlich geäußert. Wir, der Görlitzer Landrat Dr. Meyer und die unterzeichnenden Bürgermeister als Repräsentanten des Görlitzer SSG-Kreisvorstandes, erklären hier vorbehaltlos unsere Unterstützung dieses Papiers und seiner klaren Forderungen.Wir empfinden jedoch die aktuelle Lage so gravierend für die Menschen in unserer Region, dass wir Folgendes hinzufügen:
Angesichts der medial und politisch zugespitzten Diskussionslage, bereits erfolgter Benachrichtigungen der Energieversorger an ihre Kundschaft, der spürbaren Existenzängste eines weitaus größeren Bestandteils der Bevölkerung als in den Parlamenten und allabendlichen Talkshows diskutiert wird, ist es für uns, wie auch für viele unserer Mitmenschen eine bittere Enttäuschung, wenn aus gesundheitlichen Gründen des Bundeskanzlers eine sehr notwendige Runde mit den Ministerpräsidenten nicht einmal als Videoschalte oder durch seine Stellvertreter wahrgenommen wird. Grundsätzlich sagen wir in der aktuellen Lage: Sich gegenseitig Ideologie vorzuwerfen, hilft keinem Menschen, der fürchtet in der kalten Wohnung zu sitzen. Keine Schule, kein Schwimmbad und kein Museum wird beheizt, wenn in der Politik auf Bundes- wie auf Landesebene vordergründig und sehr durchschaubar nach Schuldigen gesucht wird. Die Kakophonie der lautstarken Meinungsäußerungen auf den höchsten politischen Ebenen, die der Bundesrepublik zur Verfügung stehen, verursachen gefährliche Spekulationen im Energiemarkt. Kein kommunaler Wärmeversorger, kein Krankenhaus, kein Stadtwerk und keine Wohnbaugesellschaft kann die Planungssicherheit geben, die unsere Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Gesellschaft benötigen, wenn nicht schnellstmöglich Einigkeit über zu treffende Maßnahmen und Vorsorgeschritte hergestellt wird. Wirtschaftspläne müssen auch in der Krise erstellt, Investitionen geplant und vor allem durchgeführt werden, sonst sind die Langzeitfolgen noch weniger absehbar. Ganz zu schweigen vom notwendigen Vertrauen in Bundes- und Landespolitik, das verloren geht, wenn parteipolitische Interessen über den Zusammenhalt innerhalb von Koalitionen gestellt werden.
Wir Kommunen und unsere Einwohnerinnen und Einwohner, die Unternehmen, Vereine und Versorger benötigen klar strukturierte Unterstützungsprogramme und konkrete Hilfen. Zwei Jahre Pandemiebekämpfung waren schwere Arbeit und Belastung auf allen Ebenen. Die spürbaren Wechselwirkungen mit Kandidatensuchen und Wahlkämpfen mit entsprechender Profilierungssuche über alle Parteien hinweg haben viele Entscheidungen in Frage gestellt, gemeinsame Anstrengungen unmöglich gemacht, Verwirrungen und Frustrationen provoziert. Wir können nicht – Sie dürfen so nicht weitermachen. Unsere medial geprägte Gesellschaft wird dadurch unablässig verunsichert und immer mehr gespalten.
Schon eine Pandemie lang war das falsch. Für eine weltweite Energiekrise mit der akuten Gefahr einer drastischen Inflation brauchen wir gemeinsame Anstrengungen mit größtmöglicher Einigkeit. Ein Bundeskanzler muss Führungskraft beweisen und mit seiner Ministerriege eine nationale Strategie erarbeiten, muss zu Kraftanstrengungen motivieren. Auch die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten sind aufgefordert, nicht nur die Länder- bzw. jeweiligen politischen -Interessen sondern auch ein gemeinsames Ziel zu formulieren und zu erreichen.
Selbstverständlich verlangen Krisenzeiten pragmatische und durchführbare Entscheidungen, die manchen eingeschlagenen Weg in Frage und bisherige Überzeugungen zumindest auf den Prüfstand stellen. Es braucht vor allem Mut. Vielleicht ist es genau jetzt auch an der Zeit, Finanzbeziehungen zwischen allen föderalistischen Ebenen zu hinterfragen. Der sich abzeichnenden Situation wird man nicht mit den herkömmlichen finanzpolitischen Mechanismen begegnen können. Haushaltsrechtliche Freifahrtscheine, so angebracht sie derzeit erscheinen mögen, werden sich für die Kommunen in wenigen Jahren als Bumerang erweisen. Nur eine aufgaben- und bedarfsgerechte Finanzausstattung wird unseren Landkreisen, Städten und Gemeinden das Überleben sichern. Es bedarf dringend einer Vereinfachung und Entbürokratisierung, anderenfalls wird der lähmende Selbstbeschäftigungszustand unsere Kapazitäten auch weiterhin überfordern.
Wir alle hoffen, dass wir eine zeitlich begrenzte Krise bewältigen können. Wir wünschen uns, dass der Frieden in und mit der Ukraine nicht in weiter Ferne liegt. Die Solidarität mit der Ukraine wird jedoch von immer mehr Menschen hinterfragt, je unklarer unsere Lage in der Bundesrepublik ist. Genau deshalb ist es so wichtig, unsere demokratischen Werte auch dadurch zu verteidigen, dass wir nicht unzählige Existenzen vernichten und Menschen zu Opfern machen, die unseren außenpolitischen Weg durchaus nachvollziehen können.
Dafür legen wir Ihnen erneut die Forderungen unserer kommunalen Spitzenverbände ans Herz und fordern eine zeitnahe Einigung auf Bundes- und Länderebene. Jede weitere Woche ohne Entscheidungen zu Gaspreisbremse, Gasumlage, Schutzschirmen, Insolvenzgesetz etc. stellt ein gefährliches Vakuum für unsere Gesellschaft wie für den Markt dar. Als Verantwortungsträger im kommunalen Bereich sind wir direkt bei den Menschen und spüren, wie lähmend und gefährlich sich die unklare Situation in der Gesellschaft abbildet.
Sie müssen endlich gemeinsam handeln!
Dr. Stephan Meyer - Landrat des Landkreises Görlitz
Roland Höhne - Bürgermeister der Gemeinde Rosenbach / SSG-Kreisvorsitzender
Markus Hallmann - Bürgermeister der Gemeinde Mittelherwigsdorf / SSG-Kreisvorstand
Verena Hergenröder - Bürgermeisterin der Stadt Ebersbach-Neugersdorf/ SSG-Kreisvorstand
Frank Peuker - Bürgermeister der Gemeinde Großschönau / SSG-Kreisvorstand
Torsten Pötzsch - Oberbürgermeister der Stadt Weißwasser / SSG – Kreisvorstand
René Schöne - Bürgermeister der Gemeinde Kodersdorf / SSG-Kreisvorstand
Markus Weise - Bürgermeister der Stadt Bernstadt / SSG-Kreisvorstand
Thomas Zenker - Oberbürgermeister der Stadt Zittau / SSG-Kreisvorstand
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- Erstellt am 30.09.2022 - 15:53Uhr | Zuletzt geändert am 30.09.2022 - 16:54Uhr
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