Friedhof Görlitz: So schmeckt die Ewigkeit
Görlitz, 15. September 2020. Was bleibt nach dem irdischen Leben? Für die Redakteure des Görlitzer Anzeigers die Festplatte eines Servers, den irgendwann jemand abschaltet. Und – in Deutschland erzwungenermaßen – bei den allermeisten ein Platz auf dem Friedhof, für 20 Jahre bei Urnen, für 25 Jahre bei Erdbestattungen und in Königshain sogar für 30 Jahre. In Familienstellen bleibt man länger und manche Promis dürfen auch länger bleiben. Aber oft werden Grabtafeln und Steine und Blumen nach dieser Zeit beräumt. Und dann? Vielleicht werden Geschichten weitergegeben, wenn sich jemand erinnert oder sogar etwas aufgeschrieben wurde.
Kochen hinter dem Krematorium
Angestiftet zu derlei Gedanken hat das Theater auf dem Friedhof mit dem Stück "Neun Rosen – Teil 1: Das Schmecken von Ewigkeit". Das Literaturtheater Dresden war am 6. September 2020 auf den Städtischen Friedhof zu Görlitz gekommen, um an diesem sonnigen, schon herbstlichen Tag zu zeigen, was bleiben kann: Geschichten eben, wunderbare Geschichten von Menschen, deren letzten Platz nur noch die Friedhofsakte kennt. Da war Pony, die im Krieg auf der Flucht den Kinderwagen mit der toten Tochter schob, weiter, immer weiter, da war und Rosemarie Salzmann, die unendlich viele Male ihre Kunden bei der Sparkasse fragte, ob sie Ihnen eine Freude machen darf, da war Maria Richter, die ihren Zeitungslesern so viele nützliche Haushaltstipps schenkte, und da war die Nudel-Erna, eine Kindererzieherin und SED-Genossin wie aus dem "DDR"-Bilderbuch. Jedenfalls konnte sie kochen und stopfte 60 hungrige Kindermäuler oft genug mit Nudeln. Und ihre Einladung hieß: "Zu Tisch, zu Tisch, es gibt Nudeln mit Fisch!"
Das Literaturtheater hieße nicht Theater, würde es die Geschichten nur erzählen – nein, sie werden ausgeschmückt, ausgemalt, wiederbelebt, die Besucher werden mal zum Schmunzeln gebracht, mal zum Grübeln, durchaus auch mal zum Mitrechnen. Und es wird Schokolade verteilt und Kopien mit den Haushaltstipps von Maria Richter und die Friedhofsverwalterin darf mit einem Glas Sekt "Auf das Leben!", ohne das man nicht sterben könnte, anstoßen. Jede der Frauen, über die berichtet wird, neun sind es an der Zahl, erhält auf ihrem Grab, von dem man nichts mehr sieht, eine Rose.
Wer die Veranstaltung bis zum Schluss durchgehalten hat, durfte den "Geschmack von Ewigkeit" auf der Zunge spüren, denn auf der Freifläche hinter dem Krematorium wurde mit großen Gesten gekocht und dann probiert – na, was wohl: "Zu Tisch, zu Tisch, es gibt Nudeln mit Fisch!" Freilich waren die meisten der rund 80 Gäste erst ziemlich zögerlich, dann aber wurden sie mutig und leerten den Topf. … und plötzlich war der Topf leer. Ein Junge lobte: "Ich hab‘ noch nie so was Köstliches gegessen." Seine Mutter stand zum Glück nicht daneben.
Das Stück "Neun Rosen – Teil 1: Das Schmecken von Ewigkeit" für die neun Frauen hat Markward Herbert Fischer, kreativer Kopf der Theatergruppe, geschrieben. Die jetzige Aufführung in Görlitz war die Premiere. Sie machte neugierig auf nächste Abenteuer mit dem Literaturtheater Dresden.
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- Quelle: red | Foto Kochen: Heidrun Fichtner, Foto Theater: Götz Walter
- Erstellt am 15.09.2020 - 08:59Uhr | Zuletzt geändert am 15.09.2020 - 09:31Uhr
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