Boxberg-Zeit-Schichten

Boxberg / Hamor, 30. August 2007. Einen ganz eigenwilligen Beitrag zum Boxberger Energiestandort wird es zur transNATURALE am Samstag, 1. September 2007, geben: Während sich in den letzten Monaten die zwei Betonkerne des künftigen zweiten Vattenfall-Neukraftwerks in den Himmel reckten, lief fast zeitgleich ein umfangreiches Interviewprojekt mit 18 ehemaligen und aktiven Kraftwerkern für die multimediale Performance BOXBERG-ZEIT-SCHICHTEN in der stillgelegten Turbinenhalle. Bei der Aufführung geht es weniger um Technik, Stromerzeugung und profitables Wirtschaften, sondern vor allem um diejenigen, die Strom herstellen, die Technik meistern und die Wirtschaft bewegen, um die Menschen.

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Multimedia in der stillgelegten Turbinenhalle des Kraftwerkes Boxberg

Auf der riesigen Projektionswand in der Mittelhalle zwischen Block VI und VII wird unter anderen der heutige Direktor des Vattenfall-Kraftwerks Wolfgang Beyer neben dem früheren Kraftwerksdirektor Dr. Eckhard Dubslaff, die ehemalige Kranfahrerin Birgit Berger Ferreira neben dem Schweißer Manfred Brommer und der Diplomchemikerin Sigrun Hajdamowicz auf ganz persönliche Weise ihre Lebenszeit im Kraftwerk kommentieren. Aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen die Interviewpartner über ihren persönlichen Weg in das Werk, über ungewöhnliche Herausforderungen bei der Errichtung des ehemals größten Stromerzeugers sowie über den Umgang mit der Technik und die Situation in der DDR. „Winterschlachten“, geplatzte Rohre, kollabierende E-Filter und der Einsturz eines Schornsteins berühren heute noch die Kraftwerksveteranen emotional: „Der Druck, Strom zu liefern, war groß! Energiereserven gab es in der DDR keine!“

Es erfolgte, sehr geordnet, ein riesiger Personalabbau von ehemals 4600 auf 640 Mitarbeiter. Die Arbeit im Neukraftwerk hat sich völlig verändert und so auch das Erscheinungsbild der Kraftwerke: Während man in der alten Turbinenhalle noch mit den Elementen Feuer, Wasser, Rauch und Staub, mit einem Labyrinth aus Rohren, Kesseln, Maschinen und Geräten direkt konfrontiert war, strahlt das in den 90er Jahren in Betrieb genommene neue Werk eine eigenartige Neutralität aus. Strom ist heute scheinbar zu einer sauberen Sache geworden.

„Man staunt, wie viel jetzt mit so wenigen Mitarbeitern geschafft wird, diese müssen aber heute mehr leisten!“ sagt eine frühere Mitarbeiterin des Kraftwerkes. Und eine ehemaliger Meister berichtet: „Jetzt herrscht in der alten Turbinenhalle eine unheimliche Totenstille. Man kann sich nicht mehr vorstellen, was dort für ein Leben drin war, Lärm, Wärme und eine unglaubliche Geschäftigkeit…“.

Ex-Direktor Dubslaff musste sich früher neben der stabilen Stromversorgung auch um „Ferienlager, Kulturangebote, Kindergärten und andere Sozialeinrichtungen“ kümmern. Heute geht es um eine möglichst reibungslose, scheinbar sehr entspannte Stromerzeugung! Es stört dabei nur die Wetterlage: „Wenn der Wind in Deutschland stark weht, muss das Kraftwerk manchmal bis an seine Grenzen heruntergefahren werden…“ Die Windenergie ist eben nicht berechenbar.

Während Materialknappheit, überstrapazierte Technik und Frost bis minus 30 Grad den Kollektivgeist der DDR-Kraftwerker noch steigerte, geht es heute mehr darum, effizient zu arbeiten: „Der kollektive Zusammenhalt driftet immer weiter auseinander, jeder macht Seins…“, so ein Kraftwerker, der die alte und neue Zeit erlebt hat.

Alle berichten aus ihrer Sicht über die spannende und schwierige Zeit der Wende, über Abfindungen, Vorruhestandsregelungen, den Weggang der Kinder in den Westen und das eigene Leben danach. Die meisten der ehemaligen Kraftwerker sehen ihr weiteres Leben und die Zukunft der Region nicht ohne Optimismus. Viele setzen auf die touristische Entwicklung der Region, auch auf neue Arbeitsplätze für die Jugend.

Die 600 Meter lange, 1997 stillgelegte Turbinenhalle des Altkraftwerkes Boxberg wurde während der transNATURALE 2005 (Boxberg-Sinfonie) und 2006 (4Hands) erstmals einem breiten Publikum – nicht zuletzt auch den ehemaligen KraftwerkerInnen - als Ort künstlerischer Aufführungen zugänglich gemacht.

Die 2007 speziell für die Halle konzipierte multimediale Performance-Installation BOXBERG-ZEIT-SCHICHTEN verknüpft erzählte Lebensgeschichten von ehemaligen KraftwerkerInnen mit der Turbinenhalle, dem sozialen Ort des damaligen und heutigen Geschehens. Es wird der Versuch einer künstlerischen Transformation von Raum, Zeit und Geschichte unternommen. Durch die Integration unterschiedlicher künstlerischer Mittel – Lichtinstallation, Tanzperformance, Echt-Zeit-Datengenerierung, Klang- und Videoinstallation sowie Videomontage – werden erzählte Lebensgeschichten rund um das ehemalige Kraftwerk mit der unmittelbaren Anwesenheit im Hier und Jetzt verbunden. Das Transformatorische dieses Ansatzes liegt in der Übersetzung und Verknüpfung gesellschaftlicher, kultureller, sozialer, und ästhetischer Zeitdimensionen innerhalb eines performativen Prozesses.
Ausgangs- und Endpunkt des Projektes bilden Videointerviews mit 18 ehemaligen und aktiven Kraftwerkerinnen und Kraftwerkern. Zwischen Kraftwerksdirektor und Schweißer, Schichtleiter und Kranfahrerin, also durch unterschiedliche Berufe und Positionen sowie individuell unterschiedliche Lebens-, Erinnerungs- und Erzählweisen auch der beteiligten Künstler hindurch entsteht ein spannungsvoll geschichtetes Klang-Bild des Ortes.

Teil 1: Performance-Installation: Zeit-Nischen und Time-Scanner (ca. 35 Minuten)
Zu Beginn der Veranstaltung verkörpern Tänzerinnen und Tänzer in jeweils einer Klang-Licht-Umgebung zwischen den Turbinen (Zeit-Nischen) Interviews von sechs ausgewählten ehemaligen Kraftwerkerinnen und Kraftwerkern. Die Bewegungen der Künstler verstehen sich als ganz leibhaftige Annäherung an die jeweils erzählte Lebensgeschichte. Es geht dabei weniger um Illustration oder Interpretation, sondern um den ganz persönlichen Versuch, aufkommende eigene Empfindungen zu verstehen und leibhaftig auszudrücken.
Das Publikum selbst wird auf dem 300 Meter langen Weg zur Veranstaltungshalle in seinen Bewegungen zwischen den sechs Zeit-Nischen mit Kameras erfasst. Das Videomaterial wird in einen Prozess der Echtzeit-Bildbearbeitung überführt und bildet den Ausgangspunkt der etwa nach 30 Minuten beginnenden multimedialen Aufführung im Mittelteil der Halle.


Teil 2: Multimediale Performance: Schichten- Umschichten- Geschichten (50 Minuten)
Auf dem ca. 300 Meter langen Weg vorbei an den Zeit-Nischen gelangen die Gäste in den Mittelteil der Turbinenhalle, den mit etwa 800 Stühlen bestückten Veranstaltungsort der multimedialen Performance. Hier nun nimmt der Prozess des Schichtens, Umschichtens und Geschichtenerzählens seinen Lauf: Im ersten Teil wird das Publikum auf der 35 Meter breiten Hallenwand mit ihren aufmontierten Rohren, eingelassenen Nischen und Balustraden selbst erscheinen: Alles beginnt mit dem, was unmittelbar davor geschah! In der riesigen Projektion erscheinen Bewegungen der Gäste aus unterschiedlichen Zeitfenstern, die sich wiederum zu Zeit-Bändern übereinander schichten.
In diesem Prozess der Zeit-Schichtung entfalten sich mit dem Cello erzeugte Klangmotive auf Basis einer computergestützten Steuerung zu Klangschichten, einer Echt-Zeit-Komposition, in welcher sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern.
Begleitet vom Cello folgt ein Film, der Bilder vom Alt- und Neukraftwerk sowie aus der umliegenden Landschaft mit einer imaginären Geschichte über Menschen, Kraftwerke und Energien verknüpft. Innerhalb dieser Videoproduktion agieren nunmehr die Tänzer mit ihren Motiven aus den Zeit-Nischen. Die menschlichen Körper, die mit Rohren, Nischen und Balkons bestückte Projektionsfläche und die Videoprojektion bilden dabei einen spannungsvollen Assoziationsraum, der auch die Bewegungen der Tänzer verändert.
Im letzten Teil der Aufführung werden die interviewten Kraftwerkerinnen und Kraftwerker zu hören und zu sehen sein: „Wenn im Maschinenraum der Kran fährt und man sieht niemanden, da wussten die Kollegen, dass ich drin sitze - weil ich eben sehr klein bin.“, so Birgit Berger Ferreira, ehemalige Kranfahrerin im Kraftwerk. Die Videomontage der Interviewausschnitte folgte nicht nur Aussagen zu zeitlichen Abläufen und Tatsachen. Wichtig waren uns die ganz persönlichen Stimmen und Stimmungen, die sehr individuelle Sicht auf des eigene Leben und die Arbeit im Werk. Die Boxberg-Zeit-Schichten verstehen sich auch als Reflexion eines andauernden gesellschaftlichen Umbruchs.

Idee/Konzeption/Leitung: Klaus Nicolai
Tanz-Performance: Valentina Cabro; Dimitra Kastellou; Maggie Mariam Nicolai; Ingo Reulicke; Christian Schreier, Udo Zickwolf
Zeit-Scanner/Licht: Dominik Rinnhofer
Videoproduktion: Jo Siamon Salich
Komposition/Cello Matthias Lorenz
Soundgenerierung: Michael Flade
Lichtinstallation: Andrea Hilger
Videointerviews: Josepha Dietz, Peter Lorenz, Klaus Nicolai

Interviewpartner:
Birgit Berger Ferreira; Dieter Bergk; Wolfgang Beyer;Manfred Brommer; Klaus Decker;
Dr. Eckhard Dubslaff; Klaus Guderian; Angelika Güttler; Hans Häcker; Sigrun Hajdamowicz;
Helmut Knobloch; Ralf Kunze; Horst Lorenz; Wolfgang Nauschütz; Bernd Praß; Renate Schmidt; Siegfried Trompelt; Jürgen Zastrow

Hingehen!
Sonnabend, 1. September 2007
20 bis 21.30 Uhr: Boxberg-Zeit-Schichten
Turbinenhalle des Altkraftwerkes
Performance-Installation zur Geschichte und Gegenwart eines der ehemals größten Energiespender Europas.

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  • Quelle: /red
  • Erstellt am 30.08.2007 - 01:59Uhr | Zuletzt geändert am 15.11.2021 - 10:41Uhr
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