Von den Juden in Görlitz

Görlitz, 24. April 2017. "Juden in Görlitz" war der jüngste "Spaziergang durch den Garten unserer Geschichte" überschrieben. Die Veranstaltung, gestaltet vom Dichter Steeven Fabian Bonig und vom Historiker Dr. Ernst Kretzschmar, stieß auf enormes Interesse – die KOCHWERKstatt im Hinterhaus am Demianiplatz war bis auf den letzten Platz besetzt. Görlitz verfügt über zwei ehemalige Synagogen; die ältere wurde in privater Hand saniert, die neuere, im städtischen Eigentum befindlich, wird aufwändig restauriert und als Kulturforum genutzt. Außerdem gibt es in Görlitz einen jüdischen Friedhof.
Abbildung oben: Der Görlitzer Historiker Dr. Ernst Kretzschmar bei der Begrüßung der Gäste des Abends in der KOCHWERKstatt, mit dem Rücken zur Kamera der Dichter Steeven Fabian Bonig, weltweit bekannt auch als einstiger Gestalter des sogenannten Bonehauses.

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Was die Vernichtung des jüdischen Lebens in Görlitz heute lehrt

Aus seinem neuen Bonehaus auf dem Berg herabgestiegen war Steeven Fabian Bonig, um das Publikum mit dem eigens erdachten Gedicht "Ägypten – ein Frühlingsmärchen" auf den Abend einzustimmen. Ein religiös geprägtes Gedicht, das Bezug auf Pessach und Ostern nimmt – und sich gegen ein gottloses Leben wendet als Voraussetzung, Neid, Hass, Knechtschaft und Sklaverei zu entgehen. Hier gelingt es Bonig sogar, die Brücke in die Gegenwart zu schlagen: "...braucht Sklaverei, um zu besteh'n, gewisser sehr von heut' bekannten Dressuren für das Volksverhalten. Modern ist doch das Werkzeug nur, um Sklavenhaltung zu gestalten – sei es digital, sei es Kirchturmuhr, ein Blick dahin wirkt im Prinzip, manchmal und bei manchen doch, wie einst ein Sklavenpeitschenhieb..." Bonig spricht von "vergebungslosen Fühlensweisen" und harten Herzen und seinem ganz persönlichen, gottgeführten Weg "aus Ägypten".

Dr. Ernst Kretzschmar konnte, wie so oft, für seinen Vortrag auf einen reichen Fundus an Lichtbildern zurückgreifen. Die Fotovorlagen habe er oft nach Haushaltsauflösungen aus Müllcontainern gerettet. Mit den Bildern konnte er nicht allein das einst reiche jüdische Leben in Görlitz vorstellen, sondern auch die Bedeutung einzelner Familien für das wirtschaftliche, kulturelle und soziale Leben würdigen.

Zugleich erläuterte der angesehene Historiker, wie deutsch sich die meisten Juden im Kaiserreich fühlten. Rund 100.000 von ihnen hatten im Ersten Weltkrieg "Mit Gott für Kaiser und Vaterland" ihre Haut für Deutschland zu Markte getragen, zehntausende waren dabei ums Leben gekommen oder wurden verwundet. Mit ihrem Kriegseinsatz hatten viele Juden die Hoffnung verbunden, endlich als "echte Deutsche" anerkannt zu werden. Doch sie wurden nur benutzt, konnten beispielsweise nur Reserveoffiziere werden, was eine militärische Karriere nachdem Krieg ausschloss. Die Nationalsozialisten tilgten nach ihrer Machtergreifung den militärischen Einsatz, den die Juden für Deutschland geleistet hatten, aus. Auch in der Neuen Synagoge zu Görlitz sind auf der Gefallenentafel die Namen herausgeschlagen.

Zu den gezeigten Bildern gehören auch Aufnahmen, mit denen der von der SA gestützte Boykott jüdischer Geschäfte dokumentiert wurde. Von der Nazipropaganda geschürter Rassenwahn und einseitige Schuldzuweisungen beispielsweise als "Kriegsgewinnler" verlockten viele deutsche Nicht-Juden dazu, sich als Teil einer "besseren Rasse" zu sehen und Ausgrenzungsmaßnahmen gegen Juden hinzunehmen oder sich sich mehr oder minder aktiv daran zu beteiligen.

Vor seinem Vortrag hatte Dr. Kretzschmar Literaturhinweise gegeben, darunter auf das Buch von Shlomo Graber "Der Junge, der nicht hassen wollte" (Riverfield Verlag, Basel 2016, ISBN 9783952464052), das dessen Lebensgeschichte festhält. Graber überlebte drei Konzentrationslager, darunter die die Außenstelle des KZ Groß Rosen in Görlitz im Biesnitzer Grund. Zur Einweihung der "Stelen der Erinnerung" auf dem Jüdischen Friedhof war er im Jahr 2015 nach Görlitz gekommen.

Der Abend hat seinen Wert vor allem darin, dass er erlaubt, Parallelen der Ausgrenzung in der Gegenwart zu finden: Wer als Angehöriger einer Mehrheit dazu neigt, Angehörige von Minderheiten zu stigmatisieren, nur weil sie einer anderen Religion dienen, andere kulturelle Traditionen haben oder einfach nur anders aussehen, hat aus der Geschichte nichts gelernt.

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  • Quelle: TEB | Fotos: © Görlitzer Anzeiger
  • Erstellt am 24.04.2017 - 07:46Uhr | Zuletzt geändert am 24.04.2017 - 10:45Uhr
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