Görlitzer Forscher: Ameisen "vom Winde verweht"

Görlitz | Värmdö, 18. August 2015. Wissenschaftler des Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz in Schweden eine verblüffende Entdeckung gemacht: Erstmals konnten sie hier die Ameisenart Temnothorax crassispinus nachweisen. Die Forscher gehen davon aus, dass die Tiere vom Wind aus Polen oder Lettland über die Ostsee zum Fundort, eine schwedische Insel, getragen wurden. Sowohl die Einschleppung der Ameisen mit Holzimporten oder deren Wanderung via Dänemark konnten sie weitestgehend ausschließen. Die Studie zum Thema wurde jüngst im seit 1880 erscheinenden Fachjournal der Schwedischen Entomologischen Vereinigung (die Entomologie ist die Insektenkunde) "Entomologisk Tidskrift" veröffentlicht.
Abbildung: Erstmalig in Schweden entdeckt: Die Ameisenart Temnothorax crassispinus.
Foto: © Senckenberg/Seifert

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Ameisen besiedeln schwedische Inseln mit Hilfe des Windes

Temnothorax crassispinus auf einer Insel? Die Tiere sind nicht nur wasserscheu, sondern das kühle Nass ist geradezu tödlich für sie. "Die Tiere sterben nach dem Kontakt mit Wasser in kurzer Zeit“, erklärt Dr. Bernhard Seifert, der am Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz arbeitet. Umso überraschter waren er und sein schwedischer Kollege Anders Hagman als sie diese Ameisenart ausgerechnet auf der Schäreninsel Stora Hästnacken (deutsch: Großer Pferdehals), die zur Gemeinde Värmdö gehört und nordöstlich von Stockholm liegt, fanden. "Da stellte sich für uns die Frage: Wie haben es die wasserscheuen und schlecht fliegenden Tiere auf so ein Felseneiland geschafft?“, schildert Dr. Seifert das Erstaunen über die unerwartete Begegnung.

Eine faszinierende These

Die beiden Wissenschaftler haben in ihrer Studie eine ungewöhnliche These entwicklet: Sie nehmen an, dass die Ameisen mit dem Wind von Lettland oder Polen über die Ostsee nach Schweden gelangten. "Was erstmal seltsam klingt, ist für uns die plausibelste Erklärung", erläutert der Görlitzer Ameisenexperte.

Erst glaubten die Insektenforscher aber an eine Einschleppung durch den Menschen, weil der frühere Ziegeleibetrieb auf der Insel enormen Brennholzbedarf hatte. "Diese Ameisen nisten bevorzugt in Eichenwäldern, da lag es nahe, an Holzimporte mit blinden Passagieren zu denken", so Seifert weiter, "Wir haben deshalb schwedische Quellen über Holzimporte und Ziegeleibetrieb aus der Zeit nach dem Ende des Nordischen Krieges im Jahr 1720 studiert.“ Doch dabei fanden die Forscher heraus, dass Schweden nach dem verlorenen Krieg den Handel mit den südlichen und südöstlichen Ländern einstellte und Holz meist aus dem eigenen Land oder aus Finnland verwendete. Daher konnte die Einschleppung per Holztransport schnell ausgeschlossen werden.

Vor den eher zufälligen Funden auf dieser Schäreninsel waren die kleinen Sechsbeiner nur in Mitteleuropa bekannt. Nun sind die Funde in Schweden die nördlichsten überhaupt. Auch auf dem schwedischen Festland sucht man diese Ameisenart vergeblich. Seifert weiß: "Hier breitet sich seit etwa 8.300 Jahren eine andere, in ihrer Lebensweise sehr ähnliche Ameisenart – Temnothorax nylanderi – aus.“ Die beiden Ameisenarten stehen in direkter Konkurrenz zueinander und teilen sich keine Territorien. Auch in Westeuropa ist Temnothorax nylanderi flächendeckend in dichten Populationen vorhanden. Daher gehen die Senckenberger Wissenschaftler zusätzlich davon aus, dass eine Einreise der konkurrierenden "Schwesterart" Temnothorax crassispinus nach Schweden über die Route Deutschland-Dänemark unmöglich gewesen sei.

Die nächstgelegenen großen Temnothorax crassispinus-Populationen befinden sich in Lettland und Polen – über 200 Kilometer südwestlich der nun besiedelten schwedischen Insel Stora Hästnacken. "Die Tiere selbst sind zwar ziemlich schlechte aktive Flieger – ihre im Verhältnis zum geringen Gewicht sehr große Flügelfläche macht sie aber ideal für den passiven Transport als Luftplankton“, so die Ansicht von Dr. Seifert. Auch die während der sommerlichen Ameisen-Flüge vorherrschenden Windrichtungen unterstützen die These der "windverfrachteten Ameise".

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Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz

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  • Quelle: red | Foto: © Senckenberg/Seifert
  • Erstellt am 18.08.2015 - 22:55Uhr | Zuletzt geändert am 18.08.2015 - 23:41Uhr
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