"Herz statt Hetze" in Dresden

Dresden, 8. Oktober 2015. Von Thomas Beier. Da muss ich etwas weiter ausholen: Als in Görlitz auf dem Jüdischen Friedhof die "Stelen der Einnerung" eingeweiht wurden, äußerte Monik Mlynarski, der den Holocaust nur knapp überlebt hatte, sein Unverständnis darüber, wie "das Kulturvolk der Deutschen die Verbrechen der Nazis mit angesehen und nicht reagiert hat". Ergänzen darf man: Die Deutschen haben zugelassen, dass die Nazis unter Ausnutzung der Demokratie überhaupt an die Macht kamen. Das kann man in die historische Situation einordnen, muss uns heute aber eine Lehre sein. Besonders verwerflich ist jedoch, wie den Nazis zugejubelt wurde, solange es gegen andere - zuerst gegen die Andersdenkenden, gegen Juden, Sinti und Roma, gegen Künstler und freie Medien ging. Und heute? Erst jüngst hat ein AfD-Mitglied (zur Klarheit: nein, das sind keine Nazis, sondern lupenreine Demokraten) einen Redakteur als "flach denkenden Feingeist" und "unterbelichtet" beschimpft, nachdem der auf facebook ein vom wackeren AfD-Mann verbreitetes Hetzvideo entsprechend kommentiert und widerlegt hatte. Der Beitrag ist inzwischen gelöscht (aber dokumentiert) und das Video (Strickmuster: "ich mache mir Luft", Kommentar des AfD-Manns: "man möchte das Mädel sofort in die Arme nehmen trösten, und vor allem sich damit für diese vielen Wahrheiten bedanken, die Sie so mutig im Netz äußert") neu eingestellt, jetzt gibt es nur noch genehme Kommentare. Wie sich die Bilder gleichen, wenn es um die Ablehnung des "Fremden" geht: Früher brannten die Synagogen, heute die Flüchtlingsunterkünfte. Wann taucht das erste Transparent "Die Syrer sind unser Unglück" auf? In Dresden soll nun am 19. Oktober 2015 ein Zeichen dafür gesetzt werden, dass nicht ganz Sachsen von Hass und Rassismus zerfressen ist.
Quelle der Abbildung: HERZ STATT HETZE auf facebook

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Wir können was dafür, wenn wir nichts dagegen tun

Die flüchtingsfeindlichen Aufzüge im ganzen Freistaat zeigen, dass Sachsen beileibe kein "Land von Welt" ist, sondern in seinem Sachsenstolz und seiner Heimatduselei bei schlichten Gemütern eine gewisse Überheblichkeit genährt hat. Sachsen als Land kann auf vieles stolz sein, auf Errungenschaften, Erfindungen und Menschen - aber nicht auf jene, die sich mitreißen lassen, dem rechten Rand zu folgen. Haben sie denn aus der Geschichte gar nichts gelernt?

Wenn Sachsen und Deutschland weiter erfolgreich sein wollen, dann geht das nur durch Wandel und Weiterentwicklung, durch das offene Gestalten der Gesellschaft. Freilich erzeugt das Gefühle der Unsicherheit, vor allem wenn der Wandel schnell und wenig planbar abläuft. Aber gegen den Wandel zu marschieren, das hat in der Menschheitsgeschichte noch nie zu guten Lösungen geführt.

Für Verunsicherung sorgen weniger der Flüchtlingszustrom an sich, sondern vielmehr die vielen Gerüchte und offensichtlich gefälschten Meldungen, die mit seriösem Anstrich übertüncht in den sozialen Netzwerken verbreitet werden. Hier wird auch fleißig für die Verallgemeinerung von Vorfällen gesorgt. Es scheint, als hätten viele endlich die Buhmänner für jahrelanges eigenes Versagen gefunden. Wenn Politiker und große Medien es nicht fertig bringen, die Probleme zu benennen, die die vielen Asylbegehrenden mit sich bringen, ohne sich zugleich gegen die Fremdenfeindlichkeit zu artikulieren, wird der Hass nur noch genährt. Wer soll denn sonst die Vorbild- und Führungsrolle einnehmen?

Deshalb die Demo

Die Organisatoren der Demo "Herz statt Hetze" befürchten, dass die Grundfesten unseres Zusammenlebens gefährdet sind. Aus Worten werden Taten: Schon werden jene Menschen - Asylbewerber wie Helfer und Journalisten - unter Beifall angegriffen, die nicht in das wieder erstarkende "völkische" Weltbild passen. Wo bleibt der Aufstand der Anständigen?

Es ist höchste Zeit, dass alle, die einen Rückfall in nationale Dominanz und Unterdrückung Andersdenkender verhindern wollen, sich artikulieren. In Gesprächen dem dumpfen Hass entgegentreten, die Menschlichkeit verteidigen - auch öffentlich.

"Wir können was dafür, wenn wir nichts dagegen tun", schreiben die Demo-Organisatoren am Ende Ihres auf facebook verbreiteten Aufrufs.

P.S.: Wir freuen uns schon auf Leserkommentare, die uns eine nicht neutrale Berichterstattung vorwerfen. Wir können nicht anders.

Kommentare Lesermeinungen (3)
Lesermeinungen geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich das Recht zu sinnwahrender Kürzung vor.

Was können wir wirklich tun?

Von Seensüchtiger am 26.10.2015 - 21:48Uhr
Die Bährsche Kritik bringt es auf den Punkt. Auch der Notarzt wird an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit und -bereitschaft kommen. Nach dem Winter ist vor dem Winter.

Was können wir, die "mündigen" Bürger, gegen die von M. Bähr genannten Zustände, Versäumnisse und Entwicklungen tun? Offenbar nichts.

Wir müssen nicht mutlos werden ob unserer Hilfsbereitschaft. Wir werden mutlos aus unserer Ohnmacht heraus.

Angewidert von rechten und linken Parolen macht sich mehr und mehr Resignation breit.

Zu den berechtigen Sorgen von M. Bähr

Von Johanna am 23.10.2015 - 14:14Uhr
Vor einem Jahr hätte der respektvolle Dialog vielleicht noch die Ängste der Menschen ein wenig beschwichtigen können.Aber selbst die vorsichtig Fragenden sind schon damals bei den ersten Sätzen in die rechte Ecke gestellt worden.Was sich die Regierung wirklich gedacht hat, weiß man bis heute nicht.

Trotzdem hilft es nicht, wenn auch wir mutlos werden. Wir müssen den Menschen, die nun einmal da sind, über den Winter helfen. Aus ethischen Gründen, aus Mitmenschlichkeit - aber auch, um diese Zuwendung nicht den Salafisten oder anderen Extremisten zu überlassen.

Im Moment stelle ich mir das Handeln so vor, wie ein Notarzt empfinden mag, der sich ja auch keinen Unfall wünscht aber doch den Verletzten hilft.

Zum Versagen der Politik

Von M. Bähr am 19.10.2015 - 22:10Uhr
Sehr geehrter Herr Beier und Organisatoren der Demo am 19. Oktober in Dresden, Sie haben die richtige Überschrift gewählt - Wir können was dafür, wenn wir nichts dagegen tun -

Es geht doch längst nicht mehr nur um den Flüchtlingszustrom. Es geht um ein Versagen der Politik in den vergangenen Jahren mit dem Ergebnis, dass fast die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr zur Wahl geht. Finanzkrise mit Bankenrettung, Eurokrise mit Verletzung der EU-Verträge, die NSA-Affäre, die uns den Eindruck fehlender Souveränität vermittelt, geheime Verhandlungen der Lobbyisten zum Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada, die Krise in der Ukraine mit der Missachtung der Interessen Russlands und dem für Deutschland schädlichem Handelsembargo, der verlustreiche, sinnlose Krieg in Afghanistan, der sogenannte Arabische Frühling, die Stationierung neuer Atomwaffen in Deutschland, eine EU, in der es nur noch ums Abkassieren geht und die unkontrollierte Einwanderung mit noch nicht absehbaren Folgen sind alles mehr oder weniger ungelöste Probleme. Es passt ins Bild, dass wir nun auch noch mit dem Diktator Erdogan unter Zugeständnissen Verhandeln müssen.

Alles wird letztendlich alternativlos dargestellt, ausgesessen und von der folgenden Krise überlagert. Wer spricht den jetzt noch von Griechenland? Kritiker werden verunglimpft und sofort in eine Ecke gestellt. Die Meinung der Bevölkerung ist nicht mehr gefragt, der Glauben an die Demokratie geht verloren. Die Aufrufe der Parteisoldaten gehen ins Leere, weil sie einfach zu realitätsfern sind. Politiker, schaut nach Heine dem Volk aufs Maul! Es ist längst an der Zeit, bei entscheidenden Fragen, das Volk wählen zu lassen. Leider ist der mündige Bürger dazu nicht berufen. Warum eigentlich nicht?

In Ihrem Artikel führen Sie nicht zielführende Vergleiche an, schauen Sie besser zurück in die Weimarer Republik, wo auch wenig weitsichtige Politiker, verbunden mit Krisen und gesellschaftlicher Zerrissenheit eine unheilvolle Entwicklung begünstigt haben. Das wäre in etwa Vergleichbar mit der Gegenwart.

Sie verwenden den Begriff der offenen gestalteten Gesellschaft und unterstützen den notwendigen Wandel. Die Menschen würden schon gerne wissen wie das in der Praxis aussieht und unter welchen Bedingungen sich das Zusammenleben gestaltet. Für Sie ist dieser Wandel unabdingbar, nur ausgelöst wird er von wenigen, aber Millionen sind davon betroffen. Wenn schon am Anfang dieser Entwicklung chaotische Verhältnisse herrschen, wie soll dann das Volk mit Vertrauen den politischen Entscheidungen folgen?

Das bedrohliche in dieser Zeit ist das Abdriften nach beiden Richtungen mit in der Folge nicht mehr kontrollierbarer Straßenschlachten. Demos und Gegendemos lassen grüßen. Also, wenn wir nichts gegen die weiter oben genannten Zustände, Versäumnisse und Entwicklungen tun, dann können wir etwas dafür. Willkommenskultur und Demonstrationen für Asyl und Flüchtlinge reichen nicht aus, wenn das Gesamtpaket nicht mehr stimmt!

M. Bähr

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  • Quelle: Thomas Beier | Abbildung: HERZ STATT HETZE
  • Erstellt am 08.10.2015 - 08:08Uhr | Zuletzt geändert am 08.10.2015 - 09:37Uhr
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