Aus Neu - mach’ Alt
Zittau, 16. Januar 2009. Wie der Zittauer Nachtwächter seine Gäste in die historischen Gassen und Braukeller der Stadt entführt - darüber berichtet Romy Ebert aus Zittau. Die Autorin studiert im ersten Semester Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt.
Beschreibung eines Abstiegs in die mittelalterliche Unterwelt Zittaus
Dumpf poltern unzählige Schritte die engen Steintreppen hinab. Stimmen flüstern den niedrigen Gang mit den kalten Felswänden entlang. Die Menschen ziehen ihre Köpfe ein, als wären sie Schildkröten, die sich in ihren Panzer zurückziehen wollen. Kerzen säumen den sonst düsteren Weg unter die Erde. Im Gänsemarsch stapfen rund vierzig Neugierige an Spinnennetzen und nervös flackernden Fackeln vorüber. Flach atmen sie die stickige Luft ein. Es riecht staubig wie in einer alten Besenkammer und auch stark nach Ruß. Ein kleines Mädchen mit weit aufgerissenen Augen klammert sich an die Beine ihres Vaters. Im Dämmerlicht der Fackeln erwarten hölzerne Folterinstrumente die Mutigen im steinernen Gewölbe.
Davor wartet eine Gestalt im schwarzen Kostüm, mit aufgeplusterten Hosen und rotem Poncho, auf ihren Einsatz. Ein Horn, Lederbeutel und klobige Schlüssel baumeln an einem breiten Gürtel, der den Bauch nach oben schnürt, so dass das Gewand prall spannt. Die wachsamen Augen des Zittauer Nachtwächters blicken unter seiner breiten Hutkrempe hervor; mustern die sich um ihn versammelnde Meute, bevor er in altertümlicher Oberlausitzer Mundart zur nächsten Anekdote des historischen Zittaus ausholt.
Der Zittauer Nachtwächter - das ist Jochen Kaminsky. Seit drei Jahren führt er jeden Samstagabend oder auf Bestellung Touristen sowie Einheimische durch die geschichtsträchtigen Keller und Gassen der Stadt. Und das in verschiedenen Rollen: Als Hauptmann der Stadtwache, Franziskanermönch Vincentius oder eben als Nachtwächter, die erste Figur, die der 51-jährige erfunden hat. Die Angebote seines Touristikbüros „Lusatia Superior“ sind mittlerweile Selbstläufer. Mehr als 120 Nachtwächterführungen leitet Kaminsky im Jahr, egal ob als Einzelführung oder mit mehr als 80 Gästen. 90 Minuten voller kleiner Geschichten aus und um das altertümliche Zittau enden bei einem gemütlichen Umtrunk im Keller eines historischen Gasthauses der Altstadt. Dessen Inhaber Peter Besser bewirtet als rundlicher „Braumönch vom Klosterstübl“ mit stilechter Kutte die Teilnehmer der Nachtwächterrunde,
Ding Dong. Die Kirchtürme Zittaus tönen 16 Uhr, als sich Jochen Kaminsky auf den Weg macht. Eine Stunde bevor die Teilnehmer losziehen werden, muss er die Führung vorbereiten. Erster Halt: Ein altes Bürgerhaus auf der Zittauer Neustadt. Im Durchgang zum Innenhof des Gebäudes baumeln friedlich zwei Laternen von der Decke. Klick Klick Klick macht das Stabfeuerzeug in Kaminskys Hand, ehe ein Flämmchen in den Laternen lodert. Noch verdrängt das Tageslicht des klaren Wintertags den flackernden Kerzenschein. Die Tür zum Folterkeller knarzt drohend, als sich Jochen Kaminsky in die Tiefe wagt. Der eisige Luftzug von draußen macht das Anzünden der vielen Teelichter auf den Treppenstufen beinahe unmöglich. Kaminsky schnappt sich hastig die Fackeln an den Wänden, tränkt sie stark mit Spiritus und versteckt die kleine Flasche anschließend hinter der Tür. Das karge Glühbirnenlicht, welches jetzt noch das Gewölbe erhellen darf, belächelt den angemieteten Keller und zeigt ihn so, wie er wirklich ist – voller rostiger Zangen und Bretter mit Löchern, die die Folterinstrumente darstellen. Watte mit Plastikspinnen hängt träge von den Wänden.
Keine fünf Minuten später steht Kaminsky wieder auf der Straße. Autos brausen vorüber, Geschäftsleute eilen vorbei. In einem dicken Fleecepullover und Jeans schlendert er gemütlich weiter durch die Stadt, um auch in den anderen Kellern die mystische Stimmung zu schaffen. Danach verwandelt er sich selbst zum Nachtwächter - sein Kostüm ist aber natürlich kein Original, sondern über das Internet gekauft.
Vor vier Jahren kam Kaminsky die Idee zu der besonderen Stadtführung. Von der Reiseleitung allein konnte er nicht mehr leben. „Also habe ich einfach das getan was mir Spaß macht“, sagt er. Und die Leute seien abends auch gern unterwegs. „Aber eigentlich wollte ich nie der Nachtwächter sein“, sagt Kaminsky. „Ich selbst hab’ mich immer den Laternenmann genannt.“ Die Leute riefen ihn aber „Nachtwächter“ - und dabei blieb es schließlich.
Kaminsky’s Partner, Braumönch Peter Besser, empfängt während der Vorbereitungen die Teilnehmer der Führung in der Einkaufspassage des Zittauer Salzhauses, Nach und nach trudeln sie mit langen Mänteln, dicken Schals und Handschuhen ein, bilden kleine Grüppchen und plaudern zwischen den Schaufenstern der Geschäfte. Weishaarige Männer mit Brille und Fotoapparat, junge Frauen mit schrillem Lachen und ebenso klingelnden Handys, Kinder, junge und alte Pärchen verstummen, als der Nachtwächter in seinem Landsknechtskostüm die Glastür des Gebäudes aufstößt, rasch durch die Menge schreitet und den Teilnehmern ein „Der Herr sei mit euch!“ entgegenschmettert.
Die Hellebarde in seiner Linken überragt den großen Mann um einen weiteren Kopf, ihre metallene Spitze glänzt im grellen Licht der Passage. Das Flämmchen in der bierkruggroßen Laterne des Nachtwächters kommt dagegen nicht an. Kaum poltert dieser mit seiner tiefen Stimme los, blitzen schon die ersten Fotoapparate. Scherzend erwählt der Nachtwächter seine Stellvertreter, drückt ihnen ebenfalls Hellabarden und Laternen in die Hände - in hölzerner Miniaturform. „Folget mir nun durch diese königliche Stadt“, dröhnt er noch und schreitet schnellen Schrittes voraus auf die Straße; die Laterne schwingt in seiner Hand wie ein Pendel hin und her. Die Menge trottet ihm nach, einige trödeln weit hinter dem Nachtwächter und dem Schatten seiner Hellabarde. Ein paar Sterne blinken über den Lichtern der Stadt, der Wind pfeift eiskalt um die Ecken, Frauen schmiegen sich an ihre Männer.
„Man muss die Leute fesseln, der Funke muss überspringen, dann sehen die auch gar nicht mehr die moderne Stadt um sie herum“, erklärt Jochen Kaminsky. Die gruselige Atmosphäre in den Kellern, altertümliche Sprache und Kleidung tragen dazu bei. Aber die Geschichten des Nachtwächters werden auch mit viel Witz und Esprit erzählt. „Der Nachtwächter kann dann auch mal ein bisschen frech sein – was der Bürgermeister und Stadtrat auch schon zu spüren bekommen haben“, lacht Kaminsky.
„Versammelt euch!“, schallt es dunkel durch die Gassen. Ein Atemwölkchen begleitet jedes Wort. Die eine Hand des Nachtwächters umschlingt fest die Hellebarde und den Henkel seiner Laterne; der wild gestikulierende Zeigefinger der freien Hand unterstreicht schwungvoll die Geschichten - sonst steht der Nachtwächter still. Bibbernd tapsen die Menschen von einem Fuß auf den anderen. Des Nachtwächters Stimme tönt mal laut und wuchtig, als würde er die absolute Wahrheit verkünden, dann plaudert er wieder schelmisch und rasant, als wäre die Menge ein vertrauter Freund. Ein Handy schrillt los, ein Finger hackt sofort auf die Tasten, um die Stimmung nicht zu zerstören. Autos holpern über die Pflastersteine der Straßen, dämpfen die Stimme des Nachtwächters. Vorübergehende blicken sich verwirrt nach der Menschenmasse vor dem kostümierten Mann um, einige bleiben stehen und lauschen. Jugendliche sausen auf Inlineskates vorüber. Die Leuchtreklame der Firmen und Banken beleuchten beinahe skurril den mittlerweile wieder vorauseilenden Nachtwächter und seine Gefährten. An Brunnen, Kirchen und Gassen kommen sie vorbei - an jeder Station gibt es eine Anekdote zu hören.
Vor einem weiteren alten Bürgerhaus der Stadt hält die Gruppe. Erwartungsvoll blickt die Menge den Nachtwächter an, als sei sie in eine andere Zeit versetzt worden „Seid ihr mutig genug, mir in die Keller zu folgen? Dann kommt - aber geht bedächtigen Schrittes“, warnt der Nachtwächter und ein weiterer Abstieg in die mittelalterliche Unterwelt Zittaus beginnt.
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- Quelle: /Romy Ebert | Fotos: /BeierMedia.de 2006
- Erstellt am 16.01.2009 - 00:41Uhr | Zuletzt geändert am 27.02.2021 - 15:08Uhr
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