Schwarzenberg – ein Stadtfest anderer Art

Schwarzenberg – ein Stadtfest anderer ArtSchwarzenberg, 23. Juni 2015. Von Thomas Beier. Wer das Westerzgebirge - besonders die Region um Schwarzenberg - nach Sachsen verortet, erntet bei den Erzgebirgern schnell fragende Blicke. Nein, mit den Dresdner Kaffeesachsen und erst recht den Leipziger und vor allem Chemnitzer Entartungen sächsischer Mundart will man dort kaum was gemein haben. "Eher zieht's miech noach Böhme driem hie", bestätigt auch Kurt Neubert. Der latent renitente Unabhängigkeitswille der Erzgebirger ist durch die Selbstbefreiung von der Naziregierung im Jahr 1945 nochmals nachhaltig bestärkt worden. Am Sonnabend ist mit einem bunten Gassenfest der vier Besatzungsmächte gedacht worden, die bis zum 26. Juni 1945 um die Amtshauptmannschaft Schwarzenberg – die damalige unbesetzte Zone – allesamt lieber einen Bogen gemacht hatten.
Abbildung: Kommt man aus Beier's Kunst&Kneipe "Zur Freien Republik Schwarzenberg" mit dem Drachenkeller, der Galerie Silberstein, dem Nobelcafé Piano und dem Kunsthaus Kafka, hat man die wichtigsten Schwarzenberger Einrichtungen und Institutionen sofort im Blick: Den einst von Ritter Georg selbstaufopfernd gekillten Drachen, die St.-Georgen-Kirche und gegen alle anderen Schmerzen, die in der Kneipe nicht geheilt werden konnten, die Apotheke. In luftiger Höhe aufgereiht die Symbole fröhlichen erzgebirgischen Selbstverständnisses.

Foto: © Görlitzer Anzeiger
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Die Freie Republik Schwarzenberg feiert sich selbst

Die Freie Republik Schwarzenberg feiert sich selbst
Wie sagt man im Erzgebirge doch gleich? "Wann de Russ'n kumme, wirschde mietgenumme!" Aber gern doch.
Foto: © Görlitzer Anzeiger

Thema: Woanders

Woanders

"Woanders" – das ist das Stichwort, wenn der Görlitzer Anzeiger auf Reisen geht und von Erlebnissen und Begegnungen "im Lande anderswo" berichtet. Vorbildliches, Beispielhaftes und Beeindruckendes erhält so auch im Regional Magazin seine Bühne.

Während die Schwarzenberger stolz auf Ihre Freie Republik sind, tun sich die Stadtoffiziellen unter der frisch wiedergewählten Oberbürgermeisterin Heidrun Hiemer (CDU) schwer damit: Lediglich von einem Straßenfest “Unbesetzte Zone” künden die Plakate und wischen damit die Verdienste jener, die damals Initiative und Macht ergriffen, unter den Tisch. Es waren neben Bürgerlichen halt “vorwiegend Mitglieder der KPD, aber auch Sozialdemokraten, Kommunisten…”, wie in einem von der Stadtverwaltung Schwarzenberg herausgegebenem Flyer fein differenziert wird, die die Nazis entmachteten und - aus heutiger Sicht mit einem basisdemokratischen Ansatz - versuchten, im Chaos aus Einwohnern, Flüchtlingen und deutsche Militäreinheiten das Überleben zu organisieren.

Wie schon bei zurückliegenden Freie-Republik-Jubiläen hatten die Schwarzenberger ihre Stadt wieder in vier Sektoren eingeteilt, in denen dem Charakter der einzelnen Allierten gemäß für Speis’, Trank und nicht zuletzt wirklich gute Unterhaltung gesorgt wurde. Mittendrin aber die Unbesetzte Zone der Freien Republik Schwarzenberg, inklusive Schwarzmarkt, versteht sich.



Mitten im Getümmel der Unbesetzten Zone der geheimnisvolle SIM, der auf verschlungenen Wegen aus Moskau (das Erbe eines Besatzers?) nach Schwarzenberg kam. Der Görlitzer Anzeiger hatte seine Recherchebeiträge auf Schautafeln zugänglich gemacht.

Für Görlitzer Stadtfestbesucher interessant: Trotz des enormen Aufwands kommt man hier ohne Eintrittersatz per groß angelegter PIN-Verkaufs-Aktion aus. Auch, wenn man das große ehrenamtliche Engagement berücksichtigt, muss man anerkennen: Die Stadt Schwarzenberg hat sich richtig ins Zeug gelegt.

Und so ließ es sich Leben im für einen Nachmittag und einen Abend seine Freiheit feiernden Schwarzenberg.



Trotz Fraternisierungsverbots kam es immer wieder zu spontanen Verbrüderungen, oft genug (nationsabhängig) mit Gin, Wodka, Whisky oder Cognac, ersatzweise auch mit Korn, besiegelt.

Zwischen den Sektoren patroullierten Jeeps und GAS-Geländewagen, die genau so wie die beiden Londoner Taxis Fahrgäste mitnahmen. Auf dem Marktplatz war der legendäre SIM-Staatswagen zu bewundern, zu dem der Görlitzer Anzeiger Dokumentationen ausstellte, die Spuren aus der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart festhalten.

Zonenleben

In den einzelnen Zonen steppte, von gelegentlichen Regenschauern unbeeindruckt, der Bär.

Way of Life



Cowboys, Linedancer und GI's - that's America!

Die pralle Lebenslust riss die Besucher in der Amerikanischen Zone mit: Line Dance, Büffelreiten, und Bands, die Standards von Swing bis Crosby, Stills, Nash & Young lieferten.

Bei den Franzosen savoir-vivre

Bei den Franzosen hingegen konnte man das savoir-vivre genießen: Akkordeonmusik, Crêpes, ein Highlight in Restaurant “Petit bonheur” unterm Ratskeller die Chansonette, die es aus der Bretagne nach Chemnitz verschlagen hat, die von Jacques Brel bis zur Piaf a capella vortrug. Der französische Offizier in der Ecke - très chick, der ist ja sogar echt!



Da fragt sich der Flüchtling: Können die Franzosen auch was anderes als gut essen, reichlich trinken und heftig feiern?

Andere tummelten sich in wilden Fantasieuniformen, vom Wüstenkrieger über die (später auf der Bühne musizierende) Patrouille der Commonwealth-Truppen, zum einander Verwechseln ähnliche Wehrmachts- und NVA-Uniformen und - unbedingt zu erwähnen - die vielen hübschen Mädchen mit grellrot geschminkten Lippen in Uniformen der Sowjetarmee. Da würde man gern nochmal besiegt werden.

Russische Leitkultur in der Vorstadt

Überhaupt, der russische Sektor in der Vorstand hatte es in sich. Nachdem das Druckluftorchester den Abend eingeläutet bzw. eingeblasen hatte, machten die “Ukrainiens” aus dem heimeligen Platz einen Hexenkessel.

Das Erzgebirge hatte während der sowjetischen Besatzungszeit, als hier die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft WISMUT die Menschen mit Zuckerbrot und Peitsche in die Schächte trieb, um die Pechblende aus dem Berg zu holen, ein besonderes Verhältnis zu “den Freunden” entwickelt. Die WISMUT brachte erst wilde Zeiten, dann Ordnung und Wohlstand, aber auch Krankheit und Tod.

Alternativer Text

Es gibt schnellere Wege, den Wodka ins Blut zu bringen. Schwester Ludmilla hilft gern.

An den schön kyrillisch und deutsch beschrifteten Ständen ging es vorbei bis zum Bunker (бункер), wo hinreißende Sowjetsoldatinnen und heimatsehnsüchtige Offiziere aus (so sei es denn verraten) Hochwasser-Sandsäcken eine Barrikaden-Bar errichtet hatten und aus der Mündung des Maxim-Maschinengewehrs das Blut in Form von Kirschlikör lief. Aber gegen das feucht-kühle Wetter waren dann Speck und Wodka zu bevorzugen.

Großbritannien - very british

Klein und fein der Britische Sektor.



Regen im Britischen Sektor. Was sonst?

Von der Bühne versuchte sich gerade ein Barde an Yusuf Islam, der, als er diese Titel schrieb, noch als Cat Stevens bekannt war.

Wo sind die Besiegten geblieben?

Was diesmal fehlte, waren die Wehrmachtsfahrzeuge und Motorräder nebst ihren Besatzungen. Hat eine vorauseilende political correctness deren Auftritt verhindert?



Nö, Heldenstadt Schwarzenberg ist nicht. Wir feiern lieber!

Die Schwarzenberger sollten verdammt stolz darauf sein, dass sie vor dem Hintergrund des Elends der Kriegs- und Nachkriegszeit so ein luftig-beschwingtes, vor allem gegenüber Fremden vorurteilsloses, so ein friedliches Stadtfest feiern können! Ein verklemmter Umgang mit geschichtlichen Realitäten würde da nicht weiterhelfen - gerade in der unbesetzte Zeit diente das Westerzgebirge doch als Unterschlupf für deutsche Einheiten. Während der vergangenen Feste gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Teilnahme wehrmachtsähnlicher Trachtengruppen zu irgendwelchen nationalistischen oder gar nationalsozialistischen Entgleisungen geführt hätte.

Im Zentrum der Freien Republik Schwarzenberg

Das Zentrum der Unbesetzten Zone bildete das Künstlergässchen, dort, wo - gerade gegenüber vom Tresen von Kunst und Kneipe - der Görlitzer Anzeiger seine Anlaufstelle eingerichtet hatte. Anziehungspunkt war der - nicht etwa die - RAF, so das Kürzel des Schwarzenberger Grafikers, Illustrators und Schriftstellers Ralf Alex Fichtner, der mit leichtem Federstrich und Tusche luftige Portraits zum Mitnehmen anfertigte.



Im Künstlergässchen: Solch ein Gewimmel möcht ich sehn!

Der eigentliche Gralshüter und Spiritus Rector der Freien Republik Schwarzenberg als Beispiel demokratischer Erneuerung ohne den Interesseneinfluss von Besatzungsmächten trug hinterm Tresen seine russische U-Boot-Kommandantenuniform: Jörg Beier. Auf ihn und den Verein KUNSTZONE e.V. gehen auch die ersten Jubiläumsfeste der Freien Republik Schwarzenberg - 2015 requiriert von der Stadtverwaltung Schwarzenberg - zurück.

Mangel: zu kurz

Dass sich die Stadt nun den Hut für das Fest aufgesetzt hat, stößt bei den Organisatoren nicht ungeteilt auf Gegenliebe. So kritisieren die Stand- und Attraktionenbetreiber wie auch die beteiligten Gewerbetreibenden insbesondere, dass die Stadtverwaltung das Fest auf nur zwölf Stunden begrenzt hat - vom unglücklichen Anfangszeitpunkt um 13 Uhr bis zur Notbremse um 1 Uhr. Das lohne den Aufwand für Vorbereitung und Abbau kaum, so die einhellige Meinung.

Was spricht dagegen, von Freitag bis Sonntag zu feiern? Sollten etwa andere Veranstaltungen politisch genehmer gewesen sein? Immerhin überließ Oberbürgermeisterin Hiemer die Eröffnung des Stadtfestes einem aus Leipzig angereisten Künstler und beschränkte sich später auf einen Rundgang.



Die Kultband The Horseless Riders beschloss die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Freien Republik Schwarzenberg. Da war de Sunn schie längst hinnerm Barg driem neigestiegn.

Interessiert hat das keinen: Die wenigen Besucher zur Eröffnung, als die meisten noch am heimischen Suppentopf klebten und den wolkenverhangenen Himmel als Signal zum Abwarten interpretierten, die vielen, die bei sonnigen Auflockerungen zum Fest strömten und einzelne Schauer über sich ergehen ließen, die Knallharten, die den Markplatz in der Unbesetzen Zone, wo die Kultband “The Horseless Riders” (Tipp: Musikerstammtisch!) bis früh um Eins zur Tanzfläche machten, während die Grande Nation eine Beatles Revival Band feierte, bis zur letzten Zugabe nicht müde wurden.

Mehr:
20.06.2015: Der MDR berichtete im Sachsenspiegel
(befristeter Link zur Mediathek: Sachsenspiegel ab Minute 8:38)

19.06.2015: 70. Jahrestag der Selbstbefreiung von den Nazis

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  • Quelle: Thomas Beier | Fotos: © Görlitzer Anzeiger
  • Erstellt am 22.06.2015 - 18:50Uhr | Zuletzt geändert am 12.08.2022 - 17:23Uhr
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