30 Jahre Deutsche Einheit: Episoden aus der Anfangszeit

30 Jahre Deutsche Einheit: Episoden aus der AnfangszeitGörlitz, 3. Oktober 2020. Von Thomas Beier. War die Implosion der “DDR” so etwas wie eine Stunde Null? In manchem Lebenslauf, der 1990 einen Knick, besser gesagt einen völlig neuen Impuls erhielt, mag das so scheinen. Aber es geschah das, was jene als normal empfinden, denen es nicht vergönnt war, die “DDR”-Diktatur zu erleben, und die deshalb dazu neigen, alles mit der Logik ihrer Lebenserfahrung zu erklären, der nun auch die Sowjetische Besatzungszone folgen sollte.

Abb. oben: Am Point Alpha, der die B84 zerschnitt, steht einer der ersten viereckigen Grenztürme der "DDR"-Grenztruppen, damals noch Experimentalbau genannt. Bereits am 18. November 1989 wurde hier gegen 6 Uhr morgens die innerdeutsche Grenze geöffnet – zunächst für kurze Zeit als Grenzübergangsstelle, dann ohne jede Kontrolle
Foto: © BeierMedia.de
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Die Verwirklichung der Einheit dauerte länger als gedacht

Die Verwirklichung der Einheit dauerte länger als gedacht
Schild am Grenzlehrpfad "Point Alpha" bei Buttlar
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Für meine Generation, im Herbst 1989 in den besten Jahren (in denen ist ein Mann immer), bedeutete die Abdankung der SED-Diktatur vor allem einen beruflichen Befreiungsschlag: Chancen waren nun nicht mehr von dem nicht vorhandenen Parteibuch abhängig. Mein Glück war, sofort mit Beratern und Managern aus Westdeutschland zusammenzukommen und die ganze Bandbreite von Häme bis zu ehrlicher Unterstützung zu erleben.

Ein beliebtes Diskussionsthema war, ob die Lebensverhältnisse in den “Fünf Neuen Ländern”, wie man den Osten damals nannte, binnen zwei, drei oder höchstens fünf Jahren oder vielleicht sogar noch schneller an die in den alten Ländern angeglichen sein würden. Ich argumentierte mit einem Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren Jahren, was mir keiner abnehmen wollte, aber ich glaube, ich lag richtig. Spätestens um 2010 war – zumindest aus meiner Sicht – die Angleichung geschafft, alles was heute an Unterschieden vorgetragen wird, das sind Peanuts, Normalitäten oder allenfalls Aufgaben für das Feintuning, jedenfalls kein Grund für Neiddiskussionen.

Aber die allerersten Erfahrungen “im Westen” hatten für mich ausgesprochen heitere Seiten. Mit drei kurzen Geschichten möchte ich dieses Lebensgefühl des ausklingenden Jahres 1989 beschreiben.

Episode 1: Hast’e mal ‘ne Mark?

Ziemlich bald nach der Grenzöffnung das erste Mal nach Westberlin: Zu Fuß von Treptow in Richtung Schlesisches Tor, immer tiefer hinein in den Westen, unter der U-Bahn-Linie 1, die dort als Hochbahn fährt. Das Gefühl, auf einem anderen Planeten zu sein, alles fremd, besser gesagt neuartig, auch bedrohlich, in einem anderen Rechtssystem mit, wie man hörte, unverschämt teuren Anwälten. Und das Gefühl, wenn man wieder im Osten war, raus zu sein, wieder auf sicherem Boden. Aber um diese Irrungen und Wirrungen soll es nicht gehen, mein beeindruckendstes Erlebnis auf diesem West-Spaziergang war ein Schnorrer, der mich im Vorbeigehen fragte: “Hast’e mal ‘ne Mark?” Ja klar, Solidarität war ja eingeimpft, und ich gab ihm ohne Arg eine Mark, eine Ostmark, was sonst? Dem Gesicht nach zu urteilen wurde dem armen Mann die Bedeutung des Mauerfalls schlagartig klar, für ihn brach die Welt, die heile Welt des Schnorrens, zusammen. Er wandte sich angewidert ab, ich ging weiter und sinnierte: Für einen offensichtlich – jedenfalls seinem Aussehen und Verhalten nach – bedürftigen Menschen sollte diese aus Aluminium geprägte Ostmark doch ein großer Wert sein! Wenige hundert Meter ostwärts konnte man dafür zehn Doppelsemmeln kaufen, die statt Luftblasen wirklich Substanz enthielten, oder ein ganzes Brot. Schon als Studenten hatten wir das Stipendium in Semmeleinheiten umgerechnet: Was waren wir reich!

Episode 2: Grenzdurchbruch – mit dem Trabi über den Acker in den Westen

Dezember 1989: Das Gefährt, das heute als Redaktionstrabi des Görlitzer Anzeigers in Görlitz Bürger und Touristen zum Lächeln und Winken bringt, auf großer Tour. Auf Landstraßen sollte es nach Frankfurt am Main und von dort weiter über Offenbach nach Dreieich gehen. Das Navi war damals noch nicht erfunden und es zeigte sich, was man nie wahrhaben wollte: Die Autokarten und -atlanten der "DDR" waren im ehemaligen Grenzgebiet gefälscht, wer sich nach ihnen orientierte, konnte nicht in den Westen gelangen. Folge: Eine Irrfahrt durch den deutschen Tann. Doch da, rechts, ein aufgebrochenes Tor zu einem Waldweg! Dort muss es in den Westen gehen! Also nun durch den Wald, doch am Waldrand endet der Weg an einer Wiese, am Horizont aber eine Straße, mit vielen Menschen, die winkend Autos begrüßten. Mögen es 300 oder 500 Meter gewesen sein, aber die konnten mich nicht mehr aufhalten: Quer über Wiese und Acker ging’s in den Westen, Begrüßungsjubel – und heute noch einmal einen großen Dank an die Philipsthaler!

Episode 3: Lost in Frankfurt

Weiter in Richtung Frankfurt, das am Main. Seltsame Autobahnauf- und abfahrten: Einspurig, aber mit Leitplanken. Wenn da nun mal eine Zündkerze verrußt ist und der Trabi stehenbleibt? Kein Wunder, dass die im Westen ständig Staus haben. Ein paar Kilometer vor Frankfurt nochmal Stopp und die Frage an einen Herrn am Straßenrand: Geht’s hier nach Frankfurt oder ist es besser, eine Fähre zunehmen? Die entsetzte Antwort: "Fahren Sie um Himmels willen nicht mit diesem Auto nach Frankfurt rein!" Aber die Alternative, die er erklärt hatte, konnte ich mir nicht merken, also weiter den Schildern folgen: Frankfurt a.M.!
Und dann mitten drin im Großstadt-Moloch. Abend, dunkel, Dezemberregen, dichter Verkehr, hastende Menschen, Orientierung null. Anhalten unmöglich, dann ein Wegweiser zur Konstablerwache. Vielleicht eine Polizeistation, die weiterhilft? Stop and go, doch der Trabimotor tuckert tapfer. Nur den Fahrer befällt Panik, als er sieht, dass die Autos auf seiner Straße unausweichlich in ein riesiges Haus fahren. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein Parkhaus gesehen! Echt Panik, nur irgendwie raus aus der Schlange, nicht in dieses mein Auto verschlingende Haus…
Am nächsten Tag, längst am Ziel angekommen, konnte ich nachvollziehen, dass die Konstablerwache, der Konsti, nur ein Platz ist und ich auf meiner Flucht mit dem Trabi auf der Zeil, Frankfurts berühmter Einkaufsstraße, entlanggeirrt war. Aber vielleicht hätte ich den Trabi einfach nur abstellen sollen. In der Zeitung fand sich ein Beitrag über einen Trabanten, den jemand tatsächlich auf der Zeil geparkt hatte und der am Morgen mit Geschenken behängt und eingedeckt war. Die erste spontane Freude über die Wiedervereinigung war noch nicht verhallt.

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  • Quelle: Thomas Beier | Fotos: © BeierMedia.de
  • Erstellt am 03.10.2020 - 09:19Uhr | Zuletzt geändert am 05.02.2022 - 03:36Uhr
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