Das Optimierungsproblem

Das OptimierungsproblemGörlitz, 9. Februar 2023. Von Thomas Beier. Nicht erst die Digitalisierung hat ein Problem hervorgebracht, es womöglich aber eskaliert: das Streben nach ständiger Optimierung. Energieverbrauch, Zeitnutzung, Ernährung, Routenplanung, der Körper, Geldanlagen und anderes mehr werden von vielen gnadenlos der Optimierung untergeordnet. Geht dabei zu viel Spaß am Leben verloren?

Abb.: Der eigene Körper als Objekt immer weitergehender Optimierung?
Symbolfoto: Scott Webb, Pixabay License (Bild bearbeitet)
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Lebensentwürfe: Alles wie immer oder alles immer wieder neu?

Nun soll hier nicht einem Lebensstil das Wort geredet werden, bei dem man unverbindlich in den Tag hinein lebt. Zur Sinnerfüllung im Leben ist es notwendig, sich Ziele zu setzen und mit diesen Zielen zu arbeiten. Das bedeutet, sie zu erreichen oder – wenn sich die Rahmenbedingungen geändert haben – sich neue Ziele zu setzen. Doch auch wer ohne Plan durchs Leben irrt, für den vergehen die Tage auch, abgerechnet wird zum Schluss.

Es geht vielmehr um Entschleunigung und gefühlte Zeitdehnung. Wer seinen Tag jedoch zeitlich optimiert und Termine und Erledigungen in höchster Dichte plant, dem werden schon bald die Wochen und Monate verfliegen wie früher die Tage. An seine endlos langen Kindheitstage erinnert sich wohl jeder gern. Vielleicht sind herausfordernd-erfolgreiche und zugleich gefühlt lange Tage der denkbar größte Luxus?

Entschleunigen, geht das überhaupt?

In Unternehmerkreisen, zumindest in unseren, ist ein vielen in der Corona-Zeit erstmals begegneter Begriff nun wieder häufiger in Gebrauch: die Triage. Das bedeutet, seine Kapazitäten zu definieren und nicht unbedingt zu erweitern, sondern genauer als früher zu überlegen, womit man seine Zeit verbringt und folglich vieles "sterben" zu lassen.. Wichtige Einflussfaktoren sind dabei der Spaßfaktor, die Rentabilität, eventuelle Folgeverpflichtungen und, ganz wichtig, nette Geschäftspartner – oder im Angestelltenbereich eben angenehme Vorgesetzte, Kollegen und Mitarbeiter.

Durch das Prinzip “weniger ist mehr” lassen sich Erfolgsspiralen in Gang setzen. Das zu erklären führt hier zu weit. Aber einleuchtend ist etwa: Wenn sich jemand gesünder ernährt, also weniger zu sich nimmt, dafür Hochwertiges, dann ist nach einiger Zeit die Wirkung nicht nur körperlich, sondern auch mental zu spüren – und das hat weitere positive Folgen. Welche genau, kann man nicht voraussagen, sondern prophezeien kann man nur, dass die positiven Folgen nicht eintreten, wenn man nicht die Voraussetzungen dafür schafft.

Routenplanung

Es geht darum, die ausgetretenen, die ewig gleichen Routen und Routinen zu verlassen. Zugegeben, wer einen Lieferservice oder einen Paketzustelldienst betreibt, braucht die Routenoptimierung. Die Software moderner Systeme zur Routenoptimierung hat Vorteile – und zwar viele, von etwa der Echtzeitinformation über alle Fahrzeuge ganzer Fuhrparks über die dynamische Routenänderung bis hin zur automatisierten Information der Kunden über die voraussichtliche Ankunftszeit.

Hat man sein Leben aber entschleunigt und läuft nicht im Hamsterrad des Leistungsdrucks, dann spielt Zeit bei der Planung einer Route plötzlich nicht mehr die erste Rolle. Ein gutes Beispiel ist die Autofahrt einer Familie in den Urlaub. Viele tippen das Reiseziel ins Navi und freuen sich, wenn sie die Strecke möglichst reibungslos, in kurzer Zeit und dabei auch noch sprit- oder energiesparend absolviert haben. Haben sie sich vielleicht wie bei einem Zustelldienst für Urlauber gefühlt?

Die andere Variante ist es, sich auf einer Karte grob zu orientieren, zu schauen, was alles am Wege liegt, auch mal Landstraßen zu nutzen oder ganz bewusst in unbekannte Nebenstraßen abzubiegen. Es gibt so wahnsinnig viel zu entdecken und das Abenteuer lauert überall, wo man sein Dasein nicht optimiert hat. Manche machen das ganz bewusst, indem sie wie Sonja und Max Moor, der damals noch Dieter hieß, ihre Lebensumstände komplett verändern – oder wie kann man eine Übersiedlung aus der Schweiz nach Brandenburg in den Barnim anders charakterisieren?

Erlebnisse und Emotionen bleiben analog – zum Glück!

Morgen wird zu berichten sein über eine in Görlitz verfügbare digitale Gästemappe. Eine feine Sache für jene Gäste der Stadt, die die vorgegebenen Highlights abhaken möchten, entsprechend positiv ist das Feedback. Mein Prinzip war immer ein anderes: Am Abend losziehen und Städte am besten zu Fuß erkunden, Moskau, Las Vegas, Dresden, Krakau, Istanbul – immer bis in die Morgenstunden hinein.

Die Erlebnisse könnten ein kleines Buch füllen. Zu den jugendfreien gehören ein Nudelessen bei wildfremden Leuten nachts um Zwei in Dresden oder die Gastfreundschaft einer türkischen Familie, der ich geholfen hatte, das Auto anzuschieben. Man lernt Leute kennen, denen man nie begegnet wäre, es ist wie in Jim Jarmuschs Night on Earth, nur das man eben selbst die Hauptrolle spielt. Ja, wer denn sonst im eigenen Leben?

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  • Quelle: Thomas Beier | Foto: scottwebb / Scott Webb, Pixabay License
  • Erstellt am 09.02.2023 - 17:02Uhr | Zuletzt geändert am 10.02.2023 - 07:49Uhr
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