Der rasende Arzt

Der rasende ArztGörlitz, 7. April 2018. Ein Arzt wird überraschend zu einem Noteinsatz gerufen. Er geht davon aus, dass akute Lebengefahr besteht, fährt mit stark überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt zum Patienten – und wird "geblitzt" (die im konkreten Fall verwendete Technik arbeitet allerdings tags ohne Blitz). Aus Ärger über 308 Euro Strafe, zwei Monate Fahrverbot und zwei Punkte in Flensburg will er nun "schweren Herzens", wie auf der Webseite seiner Görlitzer Praxis nachzulesen ist, diese zur Jahresmitte schließen. Der Fall schlägt Wellen, so dass sich die Stadtverwaltung Görlitz sogar zu einer Bürgerinformation veranlasst gesehen hat.

Vor dem Hauptgebäude des Städtischen Klinikums Görlitz führt die Gibrigsdorfer Straße, Ort des Geschehens, entlang.
Foto: ©2010 Südstädter, Lizenz GFDL oder CC BY 3.0, via Wikimedia Commons
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War die Geschwindigkeitsübertretung das kleinere Übel?

Es geht um MUDr. Vratislav Prejzek (MUDr. steht für medicinae universae doctor, in etwa: Doktor der Allgemeinmedizin, in Deutschland Dr. med.), der am Sonnabend, dem 6. Januar 2018, Bereitschaftsdienst hatte und zu einem, wie er veröffentlicht hat, lebensbedrohlichen Notfall angefordert wurde, weil der diensthabende Notarzt zu diesem Zeitpunkt bereits im Einsatz war. Mit seinem Privatwagen wurde er geblitzt, als er im Tempo-30-Abschnitt mit mehr als 80 Sachen am Görlitzer Klinikum vorbeibrauste. Seitdem wird nicht nur auf facebook diskutiert, ob solch eine Geschwindigkeitsübertretung in so einem Fall toleriert werden kann.

MUDr. Vratislav Prejzek, Facharzt für Innere Medizin, arbeitet als niedergelassener Allgemeinmediziner und sichert auch die hausärztliche Versorgung ab – das aber nicht nur über seine Praxis in Görlitz-Königshufen, sondern auch in Schluckenau (Šluknov). Gemeinsam mit einem weiteren Arzt gewährleistet MUDr. Prejzek in Schuckenau, wo die Praxis nach eigenen Angaben die einzige für Allgemeinmedizin in der weiten Umgebung ist, an Wochentagen Öffnungszeiten von 7 bis 17, freitags sogar bis 21 Uhr.

Um diese hohe Verfügbarkeit für seine Patienten zu sichern, mutet sich MUDr. Prejzek ein enormes Arbeitspensum zu, wenn man sich die auf den Webseiten veröffentlichten Sprechstundenzeiten zu Gemüte führt:

  • Montags von 7 bis 11.30 Uhr in Schluckenau / von 12.30 bis 17.30 Uhr in Görlitz
  • Dienstags von 7 bis 11.30 Uhr in Görlitz / von 12.30 bis 17 Uhr in Schluckenau
  • Mittwochs von 7 bis 11.30 Uhr in Schluckenau / von 12.30 bis 17.30 Uhr in Görlitz
  • Donnerstags von 7 bis 11.30 Uhr in Görlitz / von 12.30 bis 17 Uhr in Schluckenau
  • Freitags von 7 bis 9 Uhr in Schluckenau / von 10 bis 16 Uhr in Görlitz

Da findet die Mittagspause wohl im Auto statt, mit dem man von der Schluckenauer Praxis auf dem Platz des Friedens bis auf die Gersdorfstraße in Görlitz-Königshufen laut Google Maps Routenplaner schlappe 55 Minuten braucht. Erlaubt ist die Schlussfolgerung, dass MUDr. Prejzek ein routinierter Kraftfahrer sein muss, der zu dem besonders schnell die Straßenkleidung gegen den Kittel – sofern er einen trägt – tauscht.

Ob dieser intensive, im Schnitt arbeitstäglich zehnstündige Einsatz den Entschluss zur Praxisschließung am Standort Görlitz reifen lassen lassen hat, darüber kann nur spekuliert werden. Bei einem nach eigenen Angaben Steuersatz von 42 Prozent dürfte er sich jedoch gelohnt haben – je nach Sichtweise tatsächlich als Belohnung oder jedoch als Schmerzensgeld für die Qualen der Arbeit. Gut zu wissen: 42 Prozent beträgt in Deutschland der Spitzensteuersatz ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 54.950 Euro (Stand 2018), übertroffen nur noch von der sogenannten Reichensteuer in Höhe von 45 Prozent (2018 ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 260.533 Euro).

Rechtliche Diskussion

Gegen den im Internet zum Download bereitgestellten Bußgeldbescheid (Aktenzeichen 81178579 vom 26. März 2018 der Bußgeldstelle der Stadt Görlitz hat MUDr. Prejzek offenbar keine Rechtsmittel eingelegt, obgleich ihm, wie auf seiner Website zu lesen ist, der Ärztliche Leiter des Rettungsdienstes den dringenden Einsatz bestätigt habe.

Rechtlich gesehen könnte der eilige Arzt womöglich mit einem besonderen Motivationsdruck argumentieren, besonders, falls ihm der Rettungsassistent bei der Anforderung zum lebensbedrohlichen Notfall besondere Eile ans Herz gelegt hat. Vermutlich war es so, dass MUDr. Prejzek der Konflikt zwischen der Dringlichkeit seines Einsatzes und der Verzögerung aus der Beachtung des Tempo-30-Limits am Klinikum klar war und er sich zu Gunsten der Chance, einem Patienten das Leben zu retten, für die Geschwindigkeitsübertretung entschieden hat (Leben ist das einzige allgemein anerkannte notstandsfähige Rechtsgut beim übergesetzlichen entschuldigenden Notstand). Aus Sicht des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands könnte dann das Prinzip des wesentlich kleineren Übels gelten: Die Abwägung einer bewussten, kalkulierten Verkehrsgefährdung durch zu hohe Geschwindigkeit gegen das Leben eines Patienten. Das Rechtsgebiet ist allerdings kompliziert und muss Anwälten und gegebenenfalls einem Gericht vorbehalten bleiben: möglicherweise gibt es sogar Präzendenzfälle.

Aus dem Bußgeldbescheid erschließt sich übrigens nicht, wo genau die Geschwindigkeit gemessen wurde. Die an sich schon vage Ortsangabe "Görlitz, Girbigsdorfer Straße, vor Klinikum" wird ergänzt durch "i. R. Heilige-Grab-Straße". Nun führt die Heilige-Grab-Straße nun weiß Gott nicht am Städtischen Klinikum entlang und i. R. steht gewöhnlich für "im Ruhestand", was aber keinen Sinn ergibt. Ebenso sinnfrei scheint die Interpretation "in Raum", da eine Straße ja eine Fläche, allenfalls ein Gebiet darstellt. Hier könnte man sich allenfalls – als weitere Variante – "in Richtung" auf irgendetwas bewegen. Womöglich schlägt sich das Amtsdeutsch hier selbst ein Schnippchen und macht den Bescheid angreifbar?

Bürgerinformation der Stadtverwaltung Görlitz vom 6. April 2018 zu den Vorwürfen von Herrn Dr. Prejzek:

In den letzten Tagen gab es vermehrt Presse- und Bürgeranfragen in Bezug auf eine Ankündigung und Veröffentlichung von Herrn Dr. Prejzek, welcher wegen eines Bußgeldbescheides der Stadt Görlitz ankündigt, seine Praxis in Königshufen zum 30.06.2018 zu schließen. Der Bußgeldbescheid (durch Herrn Dr. Prejzek im Internet veröffentlicht) sieht für eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 54 km/h in einer 30-Zone eine Geldbuße von 280 EUR, zwei Punkte sowie zwei Monate Fahrverbot vor.

Grundsätzlich geht die Stadt Görlitz davon aus, dass die Personen, die Notarzt- und andere Gefahrenabwehreinsätze fahren, für diese Aufgaben und über die Einsatzregeln geschult sind.

Der Einsatz von Herrn Dr. Prejzek am 06.01.2018 wurde zwischen der Besatzung des Rettungswagens und ihm selbst abgesprochen und anschließend von der Leitstelle veranlasst. Auf der Fahrt zum Einsatzort fuhr Herr Dr. Prejzek auf der Girbigsdorfer Straße mit seinem Privatfahrzeug mit 84 km/h bei erlaubten 30 km/h in eine Geschwindigkeitskontrolle. Auf Grund der sehr großen Differenz zwischen erlaubter und gefahrener Geschwindigkeit sowie der getätigten Aussage von Herrn Dr. Prejzek, dass es sich um einen notärztlichen Einsatz handelte, wurde seitens der Stadtverwaltung Görlitz der Vorgang einer vorgeschriebenen Prüfung unterzogen.

Ausweislich des Einsatzprotokolls der Rettungsleitstelle handelte es sich bei dem Einsatz von Herrn Dr. Prejzek nicht um einen notärztlichen Einsatz der die Inanspruchnahme von Sonderrechten gestattete, sondern um einen Einsatz der kassenärztlichen Versorgung (gleichsetzbar mit dringender Hausarztbesuch), welcher keine Rechtfertigung der Nutzung von Sonderrechten/-signalen gibt. Der Arzt wurde vorher bereits durch den vor Ort tätigen Rettungsdienst selbst über den Zustand des Patienten informiert. Der Einsatz hatte die Priorität 4 (Einstufung 1 = sehr hoch bis 5 = sehr niedrig) Weiterhin wird ausweislich des Einsatzprotokolls der Rettungsleitstelle dargestellt, dass der alarmierte Rettungswagen um 10.34 Uhr am Einsatzort ankam und dann nach der Benachrichtigung vom Herrn Dr. Prejzek um 11.16 Uhr um 11.20 Uhr seinen Einsatz beendete. Herr Dr. Prejzek wurde um 11.38 Uhr mit überhöhter Geschwindigkeit gemessen.

Gemäß dieses Zeitablaufs - anhand des vorliegenden Einsatzprotokolls der Rettungsdienstes nachvollziehbar – handelte es sich im voraus erkennbar nicht um einen Notfalleinsatz (keine lebensbedrohliche Situation), der die Inanspruchnahme von Sonderrechten rechtfertigte, insbesondere nicht mit einer solch extremen Geschwindigkeitsüberschreitung (84 km/h in einer 30-Zone in der Mittagszeit).

Durch die Art und Weise des Umgangs in dieser Angelegenheit von Herrn Dr. Prezjek kam es zu einer Rufschädigung der Stadt und deren Mitarbeiter, die auf das Strengste von der Stadt Görlitz und Herrn Oberbürgermeister Deinege von uns zurück gewiesen wird.

Natürlich sind die praktizierenden Ärzte und auch die Einsätze als Notarzt für die Stadt sehr wichtig. Herr Oberbürgermeister Deinege bedankt sich an dieser Stelle für den unermüdlichen Einsatz der Notärzte, die vor allem am Wochenende teils in Doppelschichten für die Bevölkerung im Einsatz sind. Dennoch gibt es genau für solche Einsätze Regularien, die einzuhalten sind.

Im konkreten Fall wurden diese Regularien nicht eingehalten und die Information und die Darstellung der Sachlage erfolgte wissentlich falsch – gegenüber den Patienten der Praxis, der Bevölkerung und den Medien.

Herr Oberbürgermeister Deinege bedauert die Entscheidung, die Praxis zu schließen, dies ist eine persönliche Festlegung von Herrn Dr. Prezjek.

Die ärztliche Versorgung der Stadt sowie der Einsatz von Notdiensten sind wichtige Faktoren für die gesundheitliche Versorgung unserer Stadt. Herr Deinege hat mit der Kassenärztlichen Vereinigung, der Arbeitsgemeinschaft Notärztliche Versorgung, Kliniken und den leitenden Notärzten der Stadt Kontakt aufgenommen, um das grundsätzliche Vorgehen und Unterstützung zur Sicherung der gesundheitlichen Versorgung sowie der notärztlichen Versorgung in unserer Stadt in einem gemeinsamen Gespräch am Tisch des Oberbürgermeisters zu besprechen.

So verständlich die Reaktionen der Bürger in diesem Fall auch sind, es darf nicht dazu führen, dass die Mitarbeiter insbesondere des gemeindlichen Vollzugsdienstes der Stadt Görlitz Anfeindungen ausgesetzt sind, welche auf nicht vollständiger Information beruhen. Herr Oberbürgermeister Deinege bedauern zutiefst dieses Verhalten. Er erbittet einen respektvollen Umgang miteinander, welcher die Grundlage unserer städtischen Gesellschaft sein sollte.

Update des Görlitzer Anzeigers von Sonnabend, 7. April 2018, 10 Uhr:

Wie MUDr. Vratislav Prejzek in einem Video von Danilo Dittrich - Reporter für Sie unterwegs heute morgen schilderte, gab es noch am gestrigen Freitag zwischen ihm und Oberbürgermeister Siegfried Deinege sowie Dr. Rolf Weidle einklärendes Gespräch. Ergebnis: MUDr. Vratislav Prejzek behält seine Praxis in Görlitz und hat Widerspruch gegenden Bußgeldbescheid eingelegt.

Friede. Freude. Eierkuchen.

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  • Quelle: red | ©2010 Südstädter, Lizenz GFDL oder CC BY 3.0, via Wikimedia Commons
  • Erstellt am 07.04.2018 - 07:30Uhr | Zuletzt geändert am 19.07.2022 - 07:31Uhr
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