Siemens Görlitz: Weiter und wie?

Siemens Görlitz: Weiter und wie?Görlitz, 9. November 2017. Von Thomas Beier. Die Zukunft zieht ein - das glaubten viele, als der Görlitzer Maschinenbau am 1. Oktober 1992 von der Siemens AG übenommen wurde. 2009 wurde am traditionsreichen Görlitzer Standort eine neue, 3.000 Quadratmeter große Fertigungshalle in Betrieb genommen. Doch nachdem Nachrichten über eine mögliche Reduzierung der Kraftswerkssparte bei Siemens an die Öffentlichkeit gelangten, bangen die Mitarbeiter in Görlitz – und nicht nur dort – um ihre Arbeitsplätze. Auch für die Wirtschaft in der Stadt und im Landkreis Görlitz wäre ein Rückzug von Siemens eine Katastrophe.

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Lokale Interessen und Unternehmensstrategie im Widerspruch

Lokale Interessen und Unternehmensstrategie im Widerspruch
Ist es für Siemens in Görlitz kurz vor Zwölf - oder tickt die Uhr für den Turbinenbaustandort weiter?
Symbolfoto: Gerd Altmann, Pixabay, Lizenz CC0 Public Domain

Was die Görlitzer Turbinenbauer erleben, ist die Kehrseite der Spezialisierung: Die bringt zwar mit sich, dass Expertise entsteht und man sich mit immer weniger Wettbewerbern auseinandersetzen muss, zugleich steigt aber die Abhängigkeit von Kunden, Produkten und Technologien. Aus Sicht des Siemens-Konzerns ist es zweifelsohne richtig, sich zu erwartenden Marktentwicklungen rechtzeitig anzupassen, denn wer dabei zu lange zögert, geht unter.

Wenn sich nun die Siemensianer in Görlitz mit einer wohlformulierten, an den Siemens-Vorstand gerichteten Online-Petition gegen die Schließung des Turbinenwerks einsetzen, dann ist das eine legitime Form, ihre Interessen und Meinungen zum Ausdruck zu bringen; ebenso die für den heutigen 9. November 2017 angekündigte Demonstration vor dem Werk, die um 12.30 Uhr beginnt. Mit einer Vollsperrung des unteren Teils der Lutherstraße ist bis gegen 14.30 Uhr zu rechnen.

Hüten sollte man sich allerdings davor den Eindruck zu vermitteln, die Ursachen für eine mögliche Werksschließung oder den Abbau von Fertigungskapazitäten seien im Unvermögen der Siemens-Führung zu suchen. Stephan Kühn, Bundestagsabgeordneter der Bündnisgrünen, hat den Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser in einem Brief belehrt: "Die Schließungspläne gehen an den Marktanforderungen vorbei und blenden das Potential des Standortes vollkommen aus." Kühn verweist darauf, dass die Industriedampfturbinen aus Görlitz für die erneuerbaren Energien und für dezentrale Lösungen geeignet und nicht von fossilen Energieträgern abhängig sind.

Immerhin, darauf verweist der AfD-Bundestagsabgeordnete Tino Chrupalla, gab es bereits 2013 Pläne, die Produktion von Dampfturbinen komplett nach Mühlheim an der Ruhr zu verlagern. Er habe vielfache Gespräche mit Mitarbeitern des Siemens-Standortes Görlitz, mit Betriebsräten, der Geschäftsführung Power & Gas Görlitz bis hin in die Konzernspitze (Government Affairs Berlin) geführt – hoffentlich auch zu technischen Aspekten, denn sein Hinweis auf "Dampfturbinen, mit denen z.B. in Gas- und Dampfkraftwerken Strom erzeugt wird" zeugt davon, dass sein Fachgebiet woanders liegt: Auch im "Dampfkraftwerk" kommt der Strom noch immer aus dem Generator.

Die Görlitzer CDU möchte gar Joe Kaeser persönlich nach Görlitz zitieren, so ein Initiativantrag der Kreismitgliederversammlung vom 4. November 2017. Er solle sich selbst von der Leistungsfähigkeit des Standortes zu überzeugen und für den Erhalt dieses Industriestandortes auch im Rahmen der Strukturwandels einzusetzen. Möglicherweise wird Kaeser aber objektivere Kriterien als ein persönliches Lagebild heranziehen. Weitergehende Auskünfte sind von ihm sind auf der heutigen Jahrespressekonferenz in München zu erwarten. Ansonsten wird der Ball von der örtlichen CDU an den sächsichen SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig und den Bund weitergespielt. "Ich werde mit aller Kraft für den Erhalt des traditionsreichen Turbinenwerkes – das eines der modernsten überhaupt ist – kämpfen. Den Bund und unseren sächsischen Wirtschaftsminister fordere ich zum sofortigen Handeln auf", schrieb am 19. Oktober 2017 der auf der Kreismitgliederversammlung zum CDU-Kreisvorsitzenden gewählte Landtagsabgeordnete Octavian Ursu auf facebook.

Ähnlich der AfD kritisiert auch die Linkspartei Fehler in der Vergangenheit. Rico Gebhardt, Fraktionvorsitzender der Linken im Sächsischen Landtag, und Antje Feiks, frischgewählte Landesverbandsvorsitzende, betonen, dass "die Lausitz seit 1990 eine Serie von Strukturabbrüchen" erlebt und sprechen von der "Einfallslosigkeit sächsischer Wirtschaftspolitik". Sie fordern, noch vor der Ministerpräsidenten-Neuwahl einen Maßnahmenkatalog für die Wirtschaftsförderung in der Lausitz vorzulegen.

Der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), Stanislaw Tillich (CDU) für Sachsen, der linke Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, sowie der Berliner Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) haben einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Siemens-Chef Kaeser geschrieben. Sie erklären darin, eine Schließung der Werke nicht akzeptieren zu können. Immerhin sind Standorte unter anderem in Berlin, Leipzig, Erfurt, Offenbach, Mühlheim und Görlitz mit insgesamt bis zu 4.000 Mitarbeitern von Schließung oder Verkauf bedroht.

Natürlich unterstützt auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die Proteste der Siemens-Beschäftigten und verweist darauf, dass diese nach Tarif bezahlt werden. "Die Region braucht gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich den Betrieb, hier steht die Zukunft der Region auf dem Spiel", mahnt Dana Dubil, Regionsgeschäftsführerin des DGB Ostsachsen.

Fazit

Wenn für das Neuanlagengeschäft im Turbinenbau die Nachfrage langfristig mit Sicherheit zurückgeht und Überkapazitäten bereits entstanden sind (Quelle: Ergebnisveröffentlichung Q4 GJ 2017 | Industrielles Geschäft, Seite 3, Download ca. 762KB), muss ein Unternehmen handeln. Auch das ist soziale Verantwortung.

Wer für den Standort Görlitz argumentieren will ist gut beraten, darüber nachzudenken (auch, wenn es weh tut), ob es für Siemens vielleicht ja auch gute Gründe gibt, die Herstellung der in Görlitz gebauten Industriedampfturbinen nach Mülheim an der Ruhr zu verlagern: Die knapp 170.000 Einwohner zählende Stadt hat den Wandel von der Montanindustrie (ersten bergbaufreien Großstadt des Ruhrgebiets) zu einem Wirtschaftsstandort mit hoher Branchenvielfalt sowie Wissenschaftsstandort erfolgreich vollzogen. Mehr als die Hälfte der Flächen der Stadt an der Ruhr sind Grün- und Waldflächen. Mit anderen Worten: Dort steppt der Bär, während in Görlitz der Wolf heult. Keinesfalls dürfen sich die Standorte gegeneinander ausspielen lassen, denn auch in Mülheim haben die Mitarbeiter Fracksausen: Hier könnten 800 von 4.500 Stellen den Bach runtergehen.

Dennoch: Was sich jetzt für Görlitz und andere Siemens-Werke als Bedrohung aufbaut ist Teil einer Strategie, die den gewaltigen Konzern durch einen tiefgreifenden, langanhaltenden Wandel zukunftsfähig halten soll. Ziel ist der "große Digitalkonzern". Wie die Süddeutsche Zeitung im Mai 2017 berichtete, wird die Forschung bei Siemens von 50 Technologiefeldern auf 14 Technologiebereiche konzentriert. Übrigens drohen nicht nur Entlassungen, ist dort zu lesen, es sollen 9.000 Mitarbeiter eingestellt werden.

Aktuelle Siemens-Zahlen

Dass Siemens gesund dasteht, dokumentieren die zur heutigen Pressekonferenz in München veröffentlichten Zahlen, beispielsweise
  • stiegen die Umsatzerlöse um vier Prozent auf 83,0 Milliarden Euro,
  • sind die Märkte der Division Power & Gas, die im Vorjahr Großaufträge aus Ägypten von insgesamt 4,7 Milliarden Euro verzeichnete, weiter stark rückläufig (Auftragseingang mit 85,7 Milliarden Euro insgesamt aber nur ein Prozent unterVorjahresniveau),
  • ist das Ergebnis des Industriellen Geschäfts um acht Prozent auf 9,5 Milliarden Euro gestiegen; es gibt ein prozentual zweistelliges Wachstum bei Building Technologies, Digital Factory, Mobility sowie Process Industries & Drives, das die Rückgänge bei Power & Gas sowie Siemens Gamesa Renewable Energy (SGRE) überwog,
  • erhöhte sich der Gewinn nach Steuern um elf Prozent auf 6,2 Milliarden Euro (vor allem durch die starke operative Leistung). Siemens schlägt vor, die Dividende um zehn Cent je Aktie auf 3,70 Euro zu erhöhen.

Den Wandel gestalten, also den Umbau vollziehen, müssen Unternehmen, solange sie noch wirtschaftlich gut dastehen: Investieren oder Kredite tilgen kann man immer nur aus Gewinnen. Würde man hingegen mit den aktuellen Gewinnen den Status quo beibehalten, wäre die Zukunft verspielt. Das ist der oft schwer verständliche Hintergrund dafür, dass Unternehmen sich verändern, wenn es ihnen so richtig gut geht. Aber nur so geht es ihnen (und ihren Beschäftigten) auch zukünftig gut.

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  • Quelle: Thomas Beier | Foto Siemens-Leuchtkasten: © Flickr "@gsiemens The future moocing in.", Foto: Alan Levine, Lizenz: CC BY 2.0 Bestimmte Rechte vorbehalten; Fotografik mit Uhr: geralt / Gerd Altmann, pixabay, Lizenz CC0 Public Domain
  • Erstellt am 09.11.2017 - 09:22Uhr | Zuletzt geändert am 06.12.2021 - 12:48Uhr
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