Abrissbirne an der Neiße? Was wird aus dem Kondensatorenwerk Görlitz?

Görlitz, 8. Januar 2013. Das Jahr 2013 scheint sich zum Jahr der Fettnapftreter zu entwickeln. Nun hat sich die Görlitzer Lokalredaktion der Sächsischen Zeitung, verantwortlich für die "Görlitzer Nachrichten", eingereiht, wie dem Offenen Brief des Wildwuchs e.V. aus Görlitz vom 7. Januar 2013 zu entnehmen ist: Wurde doch im Lokalblatt vom gleichen Tage tatsächlich der Wunsch nach dem Abriss des früheren Kondensatorenwerks Görlitz (Koweg), direkt an der Neiße, laut. Das seit 1952 produzierende Werk und seine Außenstellen waren noch zu DDR-Zeiten in einen Neubau in der Nähe des heutigen Klinikums an der Girbigsdorfer Straße umgezogen. Zur Blütezeit waren im Werk mehr als tausend Mitarbeiter beschäftigt. Heute produziert noch die Electronic-Bauteile Görlitz GmbH in einem Teil des Gebäudes Girbigsdorfer Straße 17 Kondensatoren.

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Offener Brief des Wildwuchs e.V. vom 7. Januar 2013

Das nachstehend im Wortlaut wiedergegebene sowie zum Download bereitgestellte Dokument gibt nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die Auffassung der Verfasser wieder.

Betrifft: Kondensatorenwerk Görlitz

Görlitz, 7. Januar 2013

Anlass: Der Artikel „Görlitzer Wünsche für das neue Jahr“ / Erster Wunsch: Schöne Uferpromenade, vom 7.1.2013, Sächsische Zeitung, Görlitzer Nachrichten

Als „scharfen Start“ ins neue Jahr bezeichnet die Sächsische Zeitung ihre Wunschliste für 2013. Genau der ist ihr gelungen - der Wunsch nach dem Abriss des ehemaligen Kondensatorenwerkes hat ins Schwarze getroffen. Wir, der Verein Wildwuchs, sind erschüttert über diesen Wunsch und fragen uns: soll so die Zukunft der Stadt aussehen? Abriss statt Entwicklung?

Daher fordern wir:
Reaktivierung statt Abriss! Das Kondensatorenwerk muss stehen bleiben!

Zum Thema:
Es mag sein, dass mehr Grün am Neißeufer ein Gewinn wäre. Fraglich ist, ob hierfür unersetzbare, industriehistorische Bausubstanz geopfert werden muss.
- Sehen wir hier einen Schandfleck? Oder sehen wir den Reichtum unserer Stadt?
- Brauchen wir eine weitere Promenade wie es sie in deutschen Städten zu Dutzenden gibt, oder würdigen wir die ganz eigene unverwechselbare Görlitzer Geschichte?

Die Sanierung der Promenade an der Uferstraße und auch die Freigabe der neu entstandenen Parkanlage werden endlich umgesetzt. Der Uferpark ist kein Glanzstück europäischer Landschaftsarchitektur, aber eine positive Entwicklung des Geländes, das jahrelang nur eine zugewachsene Schuttfläche war. Diese Entwicklung begrüßen wir.
Die Forderung nach dem Abriss des ehemaligen Kondensatorenwerkes als einzige Lösungsvariante für eine „schöne“ Uferpromenade ist in unseren Augen keine geeignete Maßnahme. Die SZ schreibt: „Der hässliche Koloss des früheren Kondensatorenwerkes … gehört weggerissen (…) damit die Zgorzelecer endlich einen schönen Blick auf die Görlitzer Altstadt haben.“

Blättert man in derselben Zeitung ein paar Seiten weiter, kündigt auf der Seite „Lausitzer Leben“ ein umfangreicher Artikel an, dass der Freistaat Sachsen in den nächsten Jahren mehrere Millionen Euro in seine Industriekultur investieren wird. Schon seit geraumer Zeit ist auch die Rede davon die nächste Sächsische Landesausstellung zum Thema Industriekultur auszurichten.
Überall in Europa werden derzeit die wenigen, übriggebliebenen Industriedenkmäler aufwändig erhalten, nur Görlitz - eine Stadt die um den Welterbetitel kämpft - scheint sich dem Trend entgegenzustellen. Vielleicht auch weil der Reichtum an vielfältiger Bausubstanz und einzigartiger Architektur gar nicht als solcher wahrgenommen wird?
Schaut man von Polen auf die deutsche Uferpromenade, ergibt sich ein wunderbarer Blick auf die Stadtgeschichte: auf der einen Seite die Peterskirche, nebenstehend die Altstadtbrücke - Symbol von Verbindung und Neuaufbau - und linker Hand ein Stück Industriekultur. Das ist „ein schöner Anblick“ - denn er fällt ins Auge, er ist ungewöhnlich, nicht geradlinig.
Im Kondensatorenwerk haben Generationen von Görlitzern gearbeitet (Nutzung vor 1952: u.a.: Diamantenschleiferei, Chemische Reinigung, Färberei, Dampfkesselbau, Herdplattenbau, Fahrradreparaturwerkstatt, Kofferfabrik), dort entstand der immer noch erfolgreiche Sportverein „Koweg“. Das Werk hat das wirtschaftliche Leben der Stadt maßgeblich mitgeprägt. Und es könnte dies wieder tun, wenn die Stadt und ihre Bürger den Mut hätten, andere Lösungen als Generationenwohnen, Uferpromenade oder Tourismus anzudenken. Auch im Hinblick auf die Zukunft, die immer wichtiger werdende Kreativwirtschaft und die europaweit vorhandene Aufwertung historischer industrieller Bausubstanz.

Es viel zu kurzsichtig gedacht hier von Abriss zu reden. Auch der Wunsch, die Ideen und Ergebnisse der Kulturhauptstadtbewerbung „endlich einzumotten“ ist unverständlich. In diesen Konzepten war keines Falls die Rede von einem Museum oder dem Errichten eines Denkmals. Es ging um die Belebung und Reaktivierung des Geländes unter Einbezug des gesamten Neißegebietes. Es ging (und geht) um das kulturelle Erbe unserer Stadt und dessen kreative Transformation im Hinblick auf die Zukunft. Das Vorhaben trug den Titel Brückenpark und meinte Brücken jeder Art: in den Köpfen, über die Neiße hinweg und zwischen alten Mauern und moderner Architektur.
Auch wenn der Stadt das Gelände nicht gehört, sollten Überlegungen zur Nutzung nicht mit der Forderung nach dem Abriss begraben werden.

Unser Wunsch für 2013 lautet, dass sich einer oder mehrere engagierte Menschen für das Gelände finden und das Areal in seinen Grundzügen erhalten bleibt. Wir wünschen uns ein lebendiges Bild der Uferpromenade, ein Kondensator-Zentrum, das zum Verweilen, Mitmachen und Nachdenken anregt und zwischen den beiden Brücken Anziehungspunkt für die Menschen der Europastadt ist. Wir wünschen uns den Erhalt der Görlitzer Industriekultur, die schon lange einen Dornröschenschlaf träumt - wie auch der Alte Schlachthof, das alte Nähmaschinenwerk, der alte Waggonbau… Der Katalog „Annäherung / Zbliżenie / Approach - Der Brückenpark Neiße“ beinhaltet diese Vorstellungen und fußt auf Ergebnissen von Architekturwissenschaftlern und Stadtplanern die in mehreren Workshops in der Europastadt gewonnen wurden. Darin wird der Brückenpark als das Element des Wachsens einer gemeinsamen Europastadt Görlitz-Zgorzelec beschrieben - und diese Handreichung ist aktueller und dringender gebraucht als manch einem derzeit bewusst ist.

Liebe Görlitzer, wir haben 10 Gründe notiert, warum das Kondensatorenwerk als Symbol und Sinnbild in unserer Stadt erhalten werden muss. Diese Gründe sind Resultat unserer Lebenserfahrungen hier, sie sind subjektive Wahrnehmung, auf der Hand liegende Feststellungen und kreative Zukunftsgedanken.

Wir, derzeit eine kleine Gruppe von Görlitzern, arbeiten daran unsere Stadt weiterzuentwickeln - und wir sind offen für jeden, der uns darin unterstützen möchte. Görlitz, das sind seine Bürger, das sind Sie und wir.
Wir möchten ausdrücklich dazu aufrufen, ausgetretene Pfade zu verlassen, neue Lösungen anzudenken, jenseits von Abriss alternative Wege zu gehen und dabei das hohe kreative Potential in dieser Stadt mit einzubeziehen. Daher können und wollen wir den Wunsch nach dem Abriss des Kondensatorenwerkes nicht als den unseren, den der Görlitzer, stehen lassen und appellieren an die Verantwortlichen der Stadt:

Das Kondensatorenwerk darf nicht abgerissen werden!


Gez. Wildwuchs -
Danielle Höfler, Jana Lübeck, Kai W. Reinschmidt, Fabian Plank, Sascha Röhricht, Jens Zschernig

Download!
Offener Brief des Wildwuchs e.V. vom 7. Januar 2013 (ca. 262KB)


Mehr:
http://www.electel.de
Görlitzfan > Kondensatorenwerk

Kommentare Lesermeinungen (1)
Lesermeinungen geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich das Recht zu sinnwahrender Kürzung vor.

Bezahlte Wunschdenker?

Von Jens Jäschke am 09.01.2013 - 16:11Uhr
Beim betrachten der Zeilen auis dem 6-Tage-Blatt mit Namen "Sächsische Zeitung" kommt mir so ein Gedanke, den ich hier als Frage aufwerfen möchte:

Ist denn dieses besagte "Blatt" jetzt zum bezahlten (Vor-)Wunschdenker des Büros am UIntermarkt geworden? Verdient man mit anständigem Journalismus in Görlitz zu wenig Geld oder Anerkennung? Muss man in Görlitz wenig Geld verdienen und viel Anerkennung (wenn auch negative) haben? Oh, sorry, waren doch nur Fragen...

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  • Quelle: red | Fotos: BeierMedia.de
  • Erstellt am 08.01.2013 - 18:20Uhr | Zuletzt geändert am 21.06.2019 - 08:19Uhr
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