Was der Brexit für die EU und Großbritannien bedeuten würde

Görlitz, 12. Juni 2016. Aus Görlitzer Perspektive ist London ungefähr so weit weg wie Kiew, Minsk oder Sofia. Warschau und Prag, aber auch Wien und Budapest beispielsweise liegen viel näher. Zu diesen Hauptstädten und ihren Ländern haben die Görlitzer oft einen stärkeren Bezug. Dennoch: Westeuropa ist substanziell für die Entwicklungen in der Europäischen Union und Großbritannien ein wichtiger Partner. Unter dem Brexit ist der mögliche Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union zu verstehen; dieser könnte zustande kommen, wenn sich am 23. Juni 2016 die britische Bevölkerung in einer Volksabstimmung mehrheitlich dafür entscheiden sollte. Der Grexit (d.h. der Ausstieg Griechenlands aus der EU) kam bekanntlich nicht. Ob es zu einem Brexit kommen könnte, wie dafür die Chancen stehen und was dieser für Konsequenzen mit sich bringen dürfte lesen Sie hier im Görlitzer Anzeiger.

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Vom Wert (oder Unwert) von Umfragen

Die bisher durchgeführten Meinungsumfragen in Britannien zeigen an, dass es ein knappes Rennen geben dürfte: Gegner und Befürworter der EU stehen sich in etwa gleichstark gegenüber. Die Meinungsforschungsinstitute auf der Insel weisen allerdings teilweise erhebliche Unterschiede in den Ergebnissen auf, was mit einer Reihe von Faktoren zusammenhängen dürfte:

So sind die führenden Meinungsforschungsinstitute auf Umfragen unter Berücksichtigung des Mehrheitswahlrechtes ausgelegt (und somit auf die Befragung einzelner Wahlkreise). Das in Britannien gültige Mehrheitswahlrecht führt zum Beispiel dazu, dass die europakritische UKIP-Partei trotz vier Millionen Wählern mit nur einem Delegierten im Parlament vertreten ist.

Im vorliegenden Falle geht es allerdings um die landesweite Stimmenverteilung. Das ist für die britischen Institute neu. Umfragen am Telefon zeigen interessanterweise Ergebnisse eher pro EU an, während Internet Umfragen eher pro Brexit ausfallen. Die Buchmacher, welche immerhin 12.000 Wetten auf den Brexit aufgenommen haben, setzen mehrheitlich auf den Verbleib in der EU.

Die Gegner in der poltischen Arena


Maßgeblich waren für das Referendum die jahrzehntelangen Bemühungen der europakritischen Partei UKIP, deren Vorsitzender Nigel Farage unaufhörlich für einen Austritt der Briten aus der EU kämpft. Erst auf dessen Wirken hin wurde von Premierminister Cameron, welcher natürlich für den Verbleib in der EU kämpft, das Referendum für den 23. Juni anberaumt.

In Debatten gegenüber Öffentlichkeit und Presse (allerdings nicht gegeneinander – dieses Duell scheut Cameron) wissen beide Seiten Ihre Punkte eloquent wiederzugeben: Premier Cameron warnt eindrücklich vor den wirtschaftlichen Folgen eines Austritts, während Herr Farage (gerne auf die deutsche Asylpolitik verweisend) vor den Gefahren unkontrollierter Zuwanderung warnt.

Was die wirtschaftlichen Konsequenzen angeht, schätzt diese der UKIP-Vorsitzende weniger dramatisch als Herr Cameron ein: Gerade gegenüber dem IWF spart er dabei nicht mit Kritik (die er mit Beispielen aus anderen Ländern untermauern kann). Umgekehrt warnt Herr Cameron davor, dass Britannien ohne die EU "ein kleines England" würde.

Was wären die wirtschaftlichen Konsequenzen bei einem Austritt?

Im Falle eines Austritts aus der EU wären verschiedene Szenarien denkbar: Großbritannien müsste in "Scheidungsverhandlungen" treten, wie sie der CDU Politiker Elmar Brok warnend nannte (und könnte nicht auf einen Neu-Eintritt zu besseren Konditionen rechnen). Fakt ist, dass nach dem Austritt ca. 30 Handelsabkommen mit über 50 Partnerländern neu verhandelt werden müssten.

Die Finanzbranche auf der Insel könnte leiden, wie auch die Analysten von ETX Capital berichten. Institutionen wie die EZB oder auch die Großbank HSBC haben bereits angekündigt, dass sie im Falle des Brexits Mitarbeiter von der Insel abziehen würden. Das britische Pfund könnte nach Prognosen um bis zu 20 Prozent an Wert verlieren. Handel und Dienstleistungen würden beeinträchtigt werden, vor allem der erstere dürfte sich durch Zölle verteuern.

Da die Hälfte der Exporte Großbritanniens in die EU gehen (aber nur 20 Prozent der Importe aus dem gemeinsamen Binnenmarkt stammen), wäre die Beeinträchtigung nicht unerheblich. Da es sich bei den britischen Produkten mehrheitlich nicht um unersetzbare Erzeugnisse handelt, dürfte der Binnenmarkt schnell auf nicht-britische Produkte umsteigen.

Die schon genannte Pfundabwertung würde zwar britische Produkte verbilligen, doch würde dieser Effekt wahrscheinlich durch Verteuerungen der Rohstoffimporte etc. aufgehoben. Lohnkürzungen könnten notwendig werden, welche die Briten ebenso wenig wie die Nachteile im Tourismus (Abwertung bedeutet höhere Urlaubskosten im Ausland) begrüßen dürften.

Schlussendlich könnten auch die großen Autokonzerne aus den USA und Asien, welche die Insel als ihre Werkbank betrachten, ihre Investitionen zurückfahren und abwandern. Umgekehrt könnten aus den genannten Punkten leichte Vorteile für die EU entstehen, welche im Finanz-, Dienstleistungs- und Produktionssektor von den erwarteten Abwanderungen aus Britannien profitieren dürfte.

Gibt es weitere politische Konsequenzen?

Ein Austritt könnte zudem neues Wasser auf die Mühlen der Separationsbefürworter in Schottland sein: Das mehrheitlich pro-EU eingestellte Schottland könnte sich im Anschluss an den Austritt dazu entscheiden, einen neuen Versuch zu wagen. Für die EU langfristig gefährlicher könnten sich die Tendenzen in europaskeptischen Ländern wie Italien oder Frankreich erweisen, wo man ebenfalls nach einem Austritt der Briten lauter über ein Verlassen der EU nachdenken dürfte.

Fazit

Der Ausgang des Referendums ist im Moment noch völlig offen. Auch wenn der wirtschaftliche Schaden für Britannien deutlich ausfallen könnte, sind die Warnungen von EU-Gegnern vor den die Demokratie gefährdenden Tendenzen aus Brüssel wie Zentralisierung und Intransparenz nicht gänzlich von der Hand zu weisen (gerade unter Betrachtung jüngster Vorkommnisse wie den opaken Verhandlungen zu TTIP etc.).

Zudem würde sich ein Austritt aus der EU langfristig für die Union möglicherweise als schadvoller als für Großbritannien herausstellen. Dass die Wirtschaft dort nach einem Brexit kollabieren würde, ist nicht anzunehmen. Allerdings wurde der Vorgänger des Brexit, der schon genannte Grexit, wie wir heute wissen, erfolgreich im letzten Moment vermieden.

Ob dies auch am 23. Juni (oder bei einem Folgereferendum) gelingt, bleibt abzuwarten.

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  • Erstellt am 12.06.2016 - 09:27Uhr | Zuletzt geändert am 12.06.2016 - 11:03Uhr
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