Offener Brief an Mirko Schultze von der Linkspartei

Görlitz, 16. Juni 2015. Mirko Schultze ist in der Linkspartei, ist deren Kreisvorsitzender, sitzt im Stadtrat, im Kreistag, im Landtag, hat unlängst mit Achtungserfolg, aber vergeblich als Landrat kandidiert. Die Görlitzer SPD-Ortsvereinsvorsitzende Gerhild Kreutziger hat er mit einem Beitrag in den Görlitzer Nachrichten vom 10. Juni 2015 zu einem offenen Brief angeregt, den der Görlitzer Anzeiger nachstehend gern wiedergibt.

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Offener Brief der Görlitzer SPD-Vorsitzenden Gerhild Kreutziger an Mirko Schultze

Thema: Bürgerbeteiligung

Bürgerbeteiligung

Lokalpolitik ist im besonderen Maße bürgernahe Politik. Wie gut sie gelingt hängt wesentlich davon ab, wie Stadträte und Verwaltung kommunizieren und wie intensiv sich die Bürger einbringen, beispielsweise im Zuge der Bürgerschaftlichen Beteiligung. In Görlitz soll es deren Ziel sein, dass die Bürger über die wichtigsten Projekte und Entscheidungen ihrer Stadt informiert werden sowie sich aktiv an politischen Entscheidungen beteiligen können und somit bei der Gestaltung ihres Lebensumfeldes mitwirken. Dabei sollen Beteiligungsräume es den Einwohnern ermöglichen, in einem definierten Rahmen und Verfahren Entscheidungen für ihr unmittelbares Wohnumfeld zu treffen.

Sehr geehrter Herr Schultze,

Sie dürften genau wie ich den 17. Juni 1953 in Görlitz nicht miterlebt haben, weil wir beide zu dieser Zeit noch nicht geboren waren. Meine Mutter sagte dazu immer „Quark im Schaufenster“ seien wir Ungeborenen zu diesem Zeitpunkt gewesen und ich möchte das auch auf Ihre Erinnerungen ausweiten, die in der SZ vom 10.06.15 zu lesen waren.

Sie mögen Ihre ganz persönliche Sicht auf den 17. Juni haben, der alles andere als ein Freudentag für Ihre Partei sein dürfte. Bis heute fehlt mir eine kritische Aufarbeitung der Görlitzer Linken zu diesem Ereignis, das ja nicht unwesentlich durch Ihre Ursprungspartei, die SED, verursacht war.

Sie könnten nun sagen, in dieser seien auch ehemalige Sozialdemokraten seit April 1946 eingebunden gewesen. Ja, das mag sein. Aber es waren in Görlitz gerade namhafte Sozialdemokraten, die diesen Weg nicht mitgegangen sind. Und es gab am 17. Juni 1953 den Versuch einer Wiedergründung der SPD in Görlitz, der letztendlich genauso scheiterte wie der gesamte Volksaufstand.

Sie als führender Görlitzer Politiker der LINKEN führen in dem Artikel in der SZ an, was aus Ihrer Sicht zum Volksaufstand in der DDR geführt hat. Da finden sich viele bekannte Fakten, die sich aber so anhören, als wenn die Normerhöhungen zwangsläufig erforderlich waren. Nun - wir beide waren nicht dabei - vielleicht mögen Normerhöhungen für die damals Regierenden der SED eine Lösung geboten haben. Und es erinnert mich an die aktuellen gebetsmühlenartigen Forderungen aus der EU gegenüber Griechenland, seine Schulden zu Lasten der kleinen Leute einzutreiben und zu bezahlen.

Mag sein, dass die Regierenden der SED damals keinen anderen Weg gesehen haben, mag sein, dass auch heute Politikern die Phantasie fehlt, neue Wege zu gehen.

Aber so, wie Sie es beschreiben (oder es zumindest in dem Artikel so zu lesen ist), bedient das inklusive all dessen, was dann am 17. Juni 1953 folgte, die von Margaret Thatcher geprägte abgedroschene Phrase der„Alternativlosigkeit“.

Alles, was Sie anführen, klingt wie eine nachträgliche Rechtfertigung der auslösenden Momente für den Volksaufstand. Wo aber finde ich Worte, dass Sie sich bei den Menschen entschuldigen, die in Folge der Niederschlagung des Volksaufstandes in Görlitz zu Schaden gekommen sind? Was ist Ihre Haltung gegenüber denjenigen, die damals beschlossen haben, sich nach dem 17. Juni dem Staat und der SED zu beugen und sich anzupassen?

Vor zwei Jahren wurde in einer öffentlichen Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung mit vielen Zeitzeugen aus Görlitz Folgendes zum Ausdruck gebracht: Nach der Niederschlagung des „17. Juni“ (besser der daran beteiligten Personen) wurde die Sehnsucht nach Demokratie von vielen Menschen tief im Innersten verborgen, um sich und den eigenen Kindern das Überleben zu sichern. Menschen haben sich angepasst, ihre Hoffnungen auf einen Friedensvertrag aufgegeben, die Jugendweihe akzeptiert und sich von der Kirche abgewandt, um in innerer Emigration im politischen System der DDR zu überleben.

Wenn heute Politiker fragen, wieso die Menschen kein wahres Interesse an Demokratie haben (siehe die niedrige Wahlbeteiligung in Görlitz zur Landratswahl am 7.6.15) , hat das nicht auch seine Ursache darin, dass nach den Jahren des Dritten Reiches und seiner Schreckensherrschaft nur wenige Jahre später das Wort „Demokratie“ durch Ihre Vorgängerpartei bereits wieder zu einer Farce verkommen war? Es mag aufrichtige Kommunisten und Sozialdemokraten gegeben haben, die nach dem Kriegsende 1946 verabredet haben, gemeinsam etwas Besseres aufzubauen – der 17. Juni 1953 ist ein Beweis dafür, dass nur wenige Jahre später diese Absicht mit Füßen getreten wurde.

Und es waren nicht in erster Linie die erhöhten Normen, die zum Aufstand in Görlitz geführt haben. Tausende Flüchtlinge lebten acht Jahre nach dem Kriegsende in Görlitz und hatten die Hoffnung nicht aufgegeben, nach einem noch abzuschließenden Friedensvertrag mit den Alliierten wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Sie hatten Sehnsucht nach den Dörfern, in denen sie geboren waren. Sie hofften darauf, in ihre Häuser auf der nunmehr polnischen Seite jenseits der Neiße zurückkehren zu können. Das am 6. Juli 1950 geschlossene „Görlitzer Abkommen“ wurde von vielen Menschen zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptiert. Sie hofften in ihrem Innersten noch immer auf ein Friedensabkommen mit den vier Siegermächten.

Die Gewalt, mit der der Volksaufstand in Görlitz am 17. Juni 1953 beendet wurde, machte klar, dass daran nicht mehr zu denken war. Ich hoffe, Sie diskutieren in Ihrer Veranstaltung dazu, wie in Görlitz die Opfer gewürdigt werden können.

16.06.2015

Gerhild Kreutziger,
Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Görlitz

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  • Quelle: red
  • Erstellt am 16.06.2015 - 22:25Uhr | Zuletzt geändert am 16.06.2015 - 22:58Uhr
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