Festschmaus vor der Leichenschau

Genf. "Das Massaker von Katyn, dem 1940 mehr als 20.000 polnische Offiziere in einer kalt geplanten Aktion der stalinistischen Führung zum Opfer fielen, wirft lange Schatten auch ins 21. Jahrhundert", bilanziert der Heidelberger Medizinhistoriker Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart, der jetzt an einer Expertentagung in Genf zu diesem Thema teilnahm. Vom 18. bis zum 20. April versammelten sich Historiker, Rechtmediziner und IRK-Vertreter in Genf auf Einladung der Medizinischen, der Philosophischen und der Juristischen Fakultät der Universität Genf und des Zentralkomitees vom Internationalen Roten Kreuz, um neueste historischen Erkenntnisse zu diesem Fanal der politischen Massenmordgeschichte des 20. Jahrhunderts zu diskutieren.

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Im April 1943 begannen die Exhumierungen der ermordeten polnischen Offiziere in Katyn - der Heidelberger Medizinhistoriker Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart berichtet von einer Expertentagung in Genf

Hier sein Bericht: "Ein schlimmes und aktuelles Thema der Zeitgeschichte, die auch in den Dekaden danach nicht arm ist an systematisch durchgeführten politischen Morden bis hin zum Genozid, galt es zu behandeln. Das Thema ist immer noch hochaktuell. Lange Zeit wurde die brutale Mordaktion in den Wäldern von Katyn den Nazis angelastet, und es gab angesichts der manifesten Gräueltaten der SS und der Wehrmacht im Osten Gründe für diese Annahme. Aber die Dinge lagen anders. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatten die Sowjetregime von Stalin bis Gorbatschow alles daran gesetzt, die eigene Schuld zu vertuschen und die historische Wirklichkeit zu verfälschen.

Als der dänische Gerichtsmediziner Helge Tramsen im April 1943 mit einer Militärmaschine der deutschen Luftwaffe von Kopenhagen in Richtung Südosten startet, weiß er noch nicht, wohin ihn die Reise führen wird. Auch seine dänische Widerstandsgruppe gegen die deutschen Besatzer kennt nur den Beginn, nicht das Ziel der mysteriösen Reise. Die Maschine landet nach wenigen Flugstunden über die Ostsee und Mecklenburg in Berlin Tempelhof, und Tramsen darf im Hotel Adlon übernachten. Am nächsten Tag geht es in einer Junkers-Maschine zunächst nach Warschau und von dort in einer Messerschmidt nach Smolensk, wo die Wehrmacht für ihn und andere Gerichtsmediziner aus befreundeten oder besetzten Ländern der Hitler-Diktatur ein opulentes Abend-Bankett ausrichtet.

Die internationalen Experten des Todes sind ein wenig erschöpft vom Sternflug nach Weißrussland aus Kopenhagen, Sofia, Neapel, Prag, Genf und anderen Städten des Kontinents; man schmaust und plaudert, aber die Gerichtsmediziner wissen immer noch nicht, warum sie aus den Metropolen des besetzten Kontinents zusammengeführt wurden. Am nächsten Morgen geht es auf der Straße nach Westen. Der Militärkonvoi mit Medizinern und Wehrmachtsoffizieren hält schließlich in einem Waldstück bei Katyn, wo bereits an der Exhumierung zehntausender unbekannter Leichen gearbeitet wird. Sektionstische sind vorbereitet. Die Gerichtsmediziner haben ihr Ziel erreicht, ihre grausame Arbeit beginnt. Fast alle rauchen Zigaretten; der Gestank gut im Erdreich konservierter Leichen, nun der schnellen Verwesung an frischer Luft freigegeben, ist unerträglich. Sie erfahren jetzt endlich auch, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, unabhängig gebeten vom hitlerhörigen Deutschen Roten Kreuz und der polnischen Exilregierung in London, ihr Auftraggeber ist. Im Hintergrund aber bläht sich Hitlers Propagandamaschine.

Die Entscheidung fiel in Moskau noch im Herbst 1939, nachdem die staatliche Vernichtung Polens von Westen durch die Hitlerarmeen und von Osten durch Stalins Sowjetarmee vollzogen war. Insgesamt 21 857 polnische Offiziere aller Ränge wurden vom NKWD Stalins gefangen genommen, in Lagern Weißrusslands und der westlichen Ukraine interniert und systematischen Verhören über ihre Ausbildung, ihre Sprachkenntnisse und ihre Familien unterzogen. Die meisten dieser Offiziere waren Reservisten und repräsentierten die intelligente Führungselite Polens: Juristen, Mediziner, Lehrer, Historiker, Philosophen, Staatsrechtler, Polizei- und Verwaltungsfachleute. Sie alle deklarierte das Zentralkomitee der KPDSU als gefährliche polnische Feinde der Sowjetunion, die - einmal wieder freigelassen - nichts anderes im Schilde führen würden, als die gewaltsame Teilung Polens zu revidieren und auf die Niederlage des kommunistischen Sowjetsystems hinzuarbeiten.

Das Todesurteil wird am 27. Februar 1940 von Stalin unterzeichnet und beginnend mit dem 5. April 1940 in einer systematischen Exekutionsaktion in den Gefängnissen des NKWD und in den bereits ausgehobenen Massengräbern im Wäldchen von Katyn in wenigen Tagen brutal durch meist zwei bis drei Genickschüsse vollzogen. Auch für die Angehörigen der polnischen Offiziere ist bereits gesorgt. An die 66 000 Frauen und Kinder, in Listen systematisch zur Kaltstellung erfasst, werden auf Anregung des jungen und ehrgeizigen Parteiführers in der Ukraine, Nikita Chruschtschow, nach Kasachstan deportiert. Chruschtschow kann auf die besondere Gunst der Stalin-Gattin Nadeschda Allilujewa bauen. Nadeschda mag Nikita. Nachdem das in der Geschichte des 20. Jh. erste politische Massenverbrechen vollzogen ist, beginnt die Geschichte seiner systematischen Verheimlichung und Entschlüsselung.

Als am 22. Juni 1941 drei Millionen Soldaten aus Deutschland und 600 000 aus Finnland, Italien, Rumänien, Slowakei und Ungarn die Sowjetunion aus heiterem Himmel überfallen, ist die sowjetische Führung überrumpelt. Schnell bewegt sich die Front zunächst nach Osten und erreicht im Juli 1941 das Gebiet von Smolensk, wo im April 1943 bei Katyn die Massengräber der liquidierten polnischen Offiziere entdeckt werden. Die Schlacht um Stalingrad ist aber inzwischen bereits verloren; unaufhaltsam bewegt sich die russische Front wieder in Richtung Westen, und die antisowjetische Nazipropaganda läuft auf Hochtouren. Die Entdeckung von Katyn ist Wasser auf ihre Mühlen.

Helge Tramsen darf sich wie seine rechtsmedizinischen Kollegen in Katyn ganz unbeeinflusst einen Leichnam zur Autopsie aussuchen und stellt bald fest, dass dieser einen Kopfschuss aufweist. Der glatte Einschuss mit den sternförmigen ausstrahlenden Schädelfrakturen ist eindeutig; der Ausschuss des Projektils durch die Stirn hat ein fürchterliches Loch in den Schädel gerissen. Der Tod war sofort eingetreten, die Hände des Opfers hatte man zuvor auf dem Rücken mit Flaggenschnüren gefesselt. Tramsen aber sieht mehr und findet bald heraus, dass seine Leiche sicher länger als drei Jahre, lange also bevor deutsche Truppen Katyn bei Smolensk erreicht hatten, im Waldboden verscharrt worden war. Tramsen versteht sein Handwerk ebenso gut wie seine Kollegen. Die Gruppe ist einer Meinung, und alle unterschreiben ein entsprechendes gleichlautendes Protokoll. Wenige Tage nach seiner Unterschrift wird Tramsen zurück nach Kopenhagen geflogen. Noch in Smolensk erhält er ein verschnürtes Paket, das er erst in Kopenhagen öffnen darf. Die Fracht riecht unangenehm. Als er es in Kopenhagen öffnet, ist darin der Schädel des von ihm obduzierten polnischen Offiziers. Ein grausames Souvenir aus Katyn.

Es ist verständlich, dass ein solches Expertenurteil, von der NS-Propaganda in allen Medien der Welt präsentiert, das Missfallen Stalins fand. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Sektionsergebnisse in Katyn verbreitete Moskau die Nachricht, dass die in Katyn exhumierten Leichen frühestens im Spätsommer 1941 begraben worden sein könnten. Mithin sollte deutlich werden, dass nur SS und Wehrmacht für die Massenexekution verantwortlich sein konnten. Stalins Gegenpropaganda griff zunächst. Doch schon bald nach Kriegsende wurden skeptische Stimmen laut. Zwar ließ das alliierte Militärtribunal in Nürnberg die Katyn-Affaire wenig behandelt fallen, doch eine Untersuchungskommission des US-amerikanischen Kongresses brachte 1952 in Frankfurt erstes Licht in die Vorgänge um Katyn. Stalins Schuld an der Massenexekution wurde durch zahlreiche Zeugenaussagen fassbar; aber sie verblasste in der Situation des beginnenden kalten Krieges. Und Moskau mauerte massiv.

Die Aktivitäten der Sowjetführung richten sich nun gegen die internationalen Zeugen der gerichtsmedizinischen Autopsien in Katyn. Stalins feste Faust schlägt in den Ländern unter kommunistischen Einfluss gnadenlos zu und sein langer Arm erreicht auch die aktiven kommunistischen Gruppen im demokratischen Westen Europas. In der Tschechoslowakei wird der Gerichtsmediziner Frantisek Hájek (1886-1962), den die Nazis in Katyn zur Expertise gezwungen hatten, brutal zum Einlenken gezwungen. Hájek, der trotz eindeutiger Befunde in Katyn als Tscheche unter der NS-Besatzung nur widerwillig das Protokoll der forensischen Experten unterzeichnet hatte - "Hätte ich nicht unterschrieben, wäre ich nicht von Katyn zurückgekehrt!" - widerrief seine Expertise nach der kommunistischen 'Befreiung' der Tschechoslowakei und schloss sich gezwungen der sowjetischen Deutung vom Nazi-Massaker an.

Kaum einer im Westen vertraute daher auch seiner Autopsie des Tschechoslowakischen Außenministers Jan Masaryk am 10. März 1948. Hájek konstatiert "Sturz aus dem Fenster", nicht mehr aber auch nicht weniger; und man darf bis heute misstrauisch sein. Die Prager wissen um ihre Fensterstürze. Auch der italienische Kollege Tramsens, Vincenco Maria Palmieri (1899-1994), ebenfalls von Hitler nach Smolensk/Katyn eingeflogen, unterschrieb das Protokoll der Gerichtsmediziner zum Katyn-Massaker. Palmieri, überzeugt katholisch und zu keiner Lüge bereit, wurde wegen seiner antisowjetischen Aussage zum Katyn-Massenmord nach der Befreiung Italiens seit Mitte 1945 massiv durch extremistische Anhänger der treustalinistischen italienischen Kommunistischen Partei angegriffen und mit Morddrohungen drangsaliert. Der romantische Mythos von "Don Camillo et Pepone" offenbarte hier sein sehr konkretes und brutales Antlitz.

Hájeks Kollegen aus der Slowakei, Frantisek Subik, ergeht es nicht besser. Auch er wird brutal zu einer prosowjetischen Darstellung gezwungen, flieht in den Westen, wird von den Amerikanern zurück in die Tschechoslowakei geschickt, dort erneut unter Druck gesetzt und emigriert schließlich 1952 über Österreich in die USA. Standhaft bleibt der rumänische Gerichtsmediziner Alexander Birkle in Rumänien, doch man drangsaliert ihn zeitlebens, bis er schließlich bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kommt. Einzig der Genfer François Naville bleibt als Schweizer weitgehend unbehelligt. Naville aber, auch ihn bedrängen Schweizer Kommunisten, löst durch seine standhafte Haltung eine schwere diplomatische Krise zwischen den Eidgenossen und dem Stalinregime aus. Die Sowjetpropaganda schlachtet die guten Wirtschaftsbeziehungen des Alpenlandes zu Deutschland während des Hitlerkrieges aus. Deutsche Soldaten trugen Schweizer Schiesser-Unterhosen und aßen Schweizer Maggi-Suppen an den Fronten des besetzten Europas. Warum also sollte das Naziregime nicht auch den unterstellten Massenmord in Katyn decken?

Helge Tramsen schließt sich in Dänemark dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer erneut an und wird nach dem Überfall auf eine deutsche Kaserne gefangengenommen, aber bald wieder freigelassen. Die Nazis wollen ihren wichtigen Katyn-Zeugen nicht standrechtlich erschießen. In den 1970er Jahren stirbt seine Tochter, die einen polnischen Künstler geheiratet hatte, auf mysteriöse Weise in Warschau an einer Gasvergiftung in ihrer Wohnung. War es Selbstmord, ein Unfall oder Mord? Tramsen verzweifelt seelisch und verbringt die letzten Lebensjahre als gebrochener Mann.

Ende 1959 wendet sich der KGB in einem Geheimschreiben an das Politbüro und ZK der KPDSU und bittet dringend darum, endlich die Personalakten der liquidierten polnischen Offiziere vernichten zu dürfen. Sie seien für die Sowjetunion, für die Weltgeschichte und für die politische Führung Polens von keinerlei Interesse. Es gelte vielmehr, die sich inzwischen gefestigte kollektive Schuldzuweisung an die Hitlerarmee aufrechtzuerhalten. Dem Gesuch wird stattgegeben, die Akten werden verbrannt. Erst Glasnost und Peristroika veranlassen Michael Gorbatschow 1990, bei einem Treffen mit seinem polnischen Kollegen Jaruselsky, die Schuld des Stalinregimes am Massenmord einzugestehen. Es waren 50 Jahre seit dem Massenmord im Wäldchen von Katyn vergangen, alle Zeugen verstorben. Die Sowjetmacht befand sich in Agonie. Warum sollte in einer solchen Situation nicht Großmut demonstriert werden? Mütterchen Russland ließ den Vorhang fallen nach einer Tragödie des 20. Jahrhunderts, doch viele Dokumente blieben in den Archiven und werden nun systematisch ausgewertet".

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  • Quelle: /idw /Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart /Uni Heidelberg
  • Erstellt am 23.04.2007 - 20:13Uhr | Zuletzt geändert am 23.04.2007 - 20:16Uhr
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