Schock: Jetzt kommt der Osten!

Görlitz, 3. Januar 2014. Zum Tag der Deutschen Einheit lassen sich viele bedeutsame Worte finden: Über die Friedliche Revolution, deren Ziele erfüllt wurden, denn für sichere Arbeitplätze hatte in der "DDR" niemand demonstriert - da ging es neben der individuellen Freiheit und Bürgerrechten später um die D-Mark, die man sich von der deutschen Wiedervereinigung versprach. "Kommt die D-Mark nicht zu mir, gehen wir zu ihr!", hieß es in der oft seltsamen Sprache deutscher Losungen. Während von den Ex-"DDR"-Bürgern die Umstellung sämtlicher Lebensumstände, von der Sozialversicherung bis zu Verhaltensweisen, verlangt wurde, hielten sich die vereinigungsbedingten Veränderungen bei den Bewohnern der damals als gebraucht geltenden Bundesrepublik in engen Grenzen: Der in Anlehnung an das Dokument aus dem Osten neu eingeführte Sozialversicherungsausweis kam von alleine, die Einführung des Grünen Pfeils an der Verkehrsampel scheiterte an der mangelnden Flexibilität des westdeutschen Kraftfahrers. Während die naiven Ossis noch glaubten, die eingerückten Verwaltungsleute und Manager aus dem Westen seien hehren Zielen verpflichtet, war längst ein Heer von Glücksrittern und vom Karrierestau behinderten Aufstiegswilligen unterwegs, das in den sogenannten Fünf Neuen Ländern neue Pfründe witterte.

Anzeige

Eine kleine Geschichte zur Wiedervereinigung – und Hintergrundfakten

Eine kleine Geschichte zur Wiedervereinigung – und Hintergrundfakten

Eine kleine Geschichte, die Licht auf die tiefgreifenden Veränderungen in der westdeutschen Gesellschaft im Zuge der deutschen Wiedervereinigung wirft, wird gern vom Kommentator des Görlitzer Anzeigers Fritz R. Stänker kolportiert:

"Der Drang, nach dem Mauerfall mal nachzuschauen, wie weit die Verelendung des Proletariats im Westen vorangeschritten war, hatte auch mich erfasst. Erster Schritt war das Abfassen des Begrüßungsgeldes von hundert knallharten D-Mark, gewissermaßen die Initialzündung für das Abenteuer Marktwirtschaft.

Die nächstgelegene Möglichkeit, in den Westen zu gelangen, lag paradoxerweise im Osten und wurde Westberlin genannt - jene Stadt, die die Ostberliner eingemauert hatten, aber aus der sie selber draußen geblieben waren. Später haben sich viele Ostberliner über diesen Fehler der Planwirtschaft geärgert.

Mein Berliner Weg führte mich frohgemut von Treptow nach Kreuzberg, immer die Skalitzer Straße entlang. Eine anheimelnde Gegend: Die U-Bahnhöhe hießen damals wie heute "Schlesisches Tor" oder "Görlitzer Bahnhof". Den hatte ich in meiner eingemauerten Weltfremdheit vorher immer im Neißestädtchen vermutet.

Das Zusammenprallen der Systeme ereignete sich an einem dieser Bahnhöfe. Ein Punker schnorrte mich an mit dem im Osten in der Öffentlichkeit undenkbaren Standardspruch "Haste mal ´ne Mark?" Klar, dem Manne konnte und wollte ich helfen, immerhin hatte der doch kurz zuvor mein Begrüßungsgeld mitfinanziert. Nur ein Eine-D-Mark-Schein war nicht dabei. Doch soweit dachte ich gar nicht, als ich in die Hosentasche langte und ihm eine Ostmark - einen der berühmten Alu-Chips - gab.

Binnen Sekundenbruchteilen veränderte sich das Gesicht des Mannes. An der Veränderung der Konstellation von Augenbrauen, Nase und Mund in Verbindung mit spontaner Faltenbildung und entweichender Gesichtsfarbe konnte ich nachvollziehen, wie in ihm eine Welt zusammenbrach. Urplötzlich schien ihm klarzuwerden, welche Konsequenzen der Mauerfall auch für ihn, den in gesicherten Verhältnissen, wo stete Nachfrage Einkommen erzeugt, lebenden Westbürger, haben sollte."

Deutsche Einheit im Rückspiegel

Von Fritz R. Stänker. Zurück in die Gegenwart. So ist es gekommen, die deutsche Einheit brachte für beide Seiten Veränderungen. Für die westdeutschen Länder war sie zunächst das größte Konjunkturprogramm seit dem Marshallplan, eröffnete Absatzmärke und ein Reservoir an qualifiziertem Personal. Ja doch, gut so, schließlich brauchte die Wirtschaft Motive, um sich im Osten zu engagieren.

Für die Ex-"DDR" hingegen war die deutsche Einheit ein riesiges Geschenk: Ein sprungartiger Anstieg von Wohlstand, die Bearbeitung der von der sozialistischen Planwirtschaft zurückgelassenen Umweltprobleme, Reisefreiheit, ein verlässliches Rechtssystem und vor allem die persönliche Freiheit, eigenverantwortlich und ohne Gängelei über sein Leben zu bestimmen. Die Kehrseite der ersehnten Leistungsgesellschaft hatten vorher die Wenigsten bedacht, die sozialen Verwerfungen, der Ausschluss breiter Schichten aus der Leistungerbringung.

Der hohe Grundsockel an Langzeitarbeitslosen im Osten ist ein Späterbe der "DDR"-Wirtschaft, die Produktivität durch billige, häufig niedrigqualifizierte Arbeitskräfte, ersetzte. Diese Leute machten Jobs, die es heute nicht mehr gibt, weil sie durch Technologien ersetzt wurden oder weil die Industrie abgewandert ist. Einen Beitrag zur Herausbildung der Langzeitarbeitslosigkeit leistete zudem die hohe soziale Absicherung der alten Bundesrepublik: Selbst für Kurzarbeiter und Arbeitslose war der Lebensstandard im Vergleich zu "DDR"-Verhältnissen erst einmal viel höher - Motivation zur Veränderung der persönlichen Verhältnisse entsteht so nicht. Schnell spaltete sich die Gesellschaft in jene, die alles auf sich nahmen, um an der neuen Zeit teilzuhaben, und in jene, die sich nur verwalten ließen.

Heute, wo klarer denn je hervortritt, dass es westdeutsche Regionen gibt, die Verlierer der deutschen Einheit sind, ist es an der Zeit, ein Stück weit zurückzuzahlen, was an Hilfen in den Osten geflossen ist. Beispielsweise, indem der Solidarpakt zum innerdeutschen Instrument zur Förderung benachteiligter Regionen weiterentwickelt wird.

Wie kam es zur deutschen Teilung?

Die deutsche Teilung wird heute meist mit dem Mauerbau in Berlin am 13. August 1961 und der Abriegelung der innerdeutschen Grenze in Verbindung gebracht.

Fakt ist, dass zuerst in der Trizone - den Besatzungsgebieten von Amerikanern, Briten und Franzosen - eine separate Währung eingeführt wurde. Die Geburtsstunde der Deutschen Mark war der 21. Juni 1948. Erst am 24. Juli 1948 zog die Sowjetische Besatzungszone mit einer eigenen Währung nach, die sich bis 1964 ebenfalls Deutsche Mark nannte.

Auch bei der Staatsgründung machten die westdeutschen Länder als Erste ihr eigenes Ding: Gründungstermin der Bundesrepublik Deutschland - der eigentlich eine umfassende staatliche Neuorganisation des Deutschen Reichs auf dem Gebiet der damaligen Trizone markiert - war mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes der 23. Mai 1949, die "DDR" gab es seit dem 7. Oktober 1949.

Als Ursache für die Vorreiterfunktion der von den Westalliierten besetzen Länder bei der Währungsumstellung und bei der Staatsgründung wird das Scheitern der Londoner Außenministerkonferenz im Jahr 1947 gesehen. Frankreich und die Sowjetunion hatten sich gegen eine zentrale deutsche Verwaltung ausgesprochen. Außerdem wollten die Sowjets mehr Einfluss auf das Ruhrgebiet und Reparationsleistungen nicht nur aus ihrer Besatzungszone, sondern aus ganz Deutschland. Die Tschechoslowakei erklärte sogar das deutsche Vermögen auf ihrem Gebiet gleich als eigenes nationales Staatsvermögen, also nicht als Reparation. Die Konferenz wurde abgebrochen, die deutsche Teilung damit für Jahrzehnte zementiert.

Kommentare Lesermeinungen (0)
Lesermeinungen geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion, sondern die persönliche Auffassung der Verfasser wieder. Die Redaktion behält sich das Recht zu sinnwahrender Kürzung vor.

Schreiben Sie Ihre Meinung!

Name:
Email:
Betreff:
Kommentar:
 
Informieren Sie mich über andere Lesermeinungen per E-Mail
 
 
 
Weitere Artikel aus dem Ressort Weitere Artikel
  • Quelle: red | Fritz Rudolph Stänker
  • Erstellt am 03.10.2014 - 07:04Uhr | Zuletzt geändert am 05.02.2022 - 04:02Uhr
  • drucken Seite drucken
Anzeige